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Ohne Worte #3: The Dreyfus Affair – The Fight of the Reporters (1899)

Georges Méliès ist berühmt für seine fantastischen und trickreichen Clips aus der Frühphase des Mediums - allen voran für Die Reise zum Mond.

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Georges Méliès ist berühmt für seine fantastischen und trickreichen Clips aus der Frühphase des Mediums – allen voran für Die Reise zum Mond.

Was weniger bekannt ist: Der französische Kinopionier auch hat einen Journalistenfilm auf dem Kerbholz. Und was für einen: The Fight of the Reporters als ein (Serien-)Teil von Méliès The Dreyfus Affair ist gleich in mehrfacher Hinsicht denkwürdig.

Text: Patrick Torma.

Treffen sich mehrere News-Teams in einem schmuddeligen Hinterhof und gehen mit Granaten und Dreizack aufeinander los: Die wahnwitzige Prügelei unter toupierten Nachrichtenmännern gehört zu den zentralen Gags in Adam McKays Siebzigerjahre-Persiflage Anchorman (2004). Schlagfertig waren Journalisten und Medienmacher im Kino schon immer. Eine der frühesten filmischen Darstellungen einer medialen Massenkeilerei brachte George Méliès noch im ausgehenden 19. Jahrhundert auf die Leinwand. In The Fight of the Reporters sehen wir einer aufgebrachten Journalistenschar dabei zu, wie sie in einem Gerichtssaal aufeinander losgeht und dann in Richtung Kamera türmt.

1894 erfasst die Dreyfus-Affäre Frankreich. Der Hauptmann Alfred Dreyfus steht im Verdacht, Staatsgeheimnisse an die Erbfeinde des deutschen Kaiserreiches weitergegeben zu haben und wird des Landesverrates angeklagt. Als Elsässer, damit Quasi-Deutscher, jüdischen Glaubens passt Dreyfus perfekt ins Bild des Denunzianten. Die rasche Verurteilung jedoch macht stutzig, es kommen Zweifel an dieser Version der Geschichte aus. Hat sich das Kriegsministerium einen Sündenbock herausgepickt, um die Angelegenheit schnell wie geräuschlos von der Agenda zu fegen?

Lesetipp: Die Bundeszentrale für politische Bildung fasst den Fall Dreyfus nach und seine Folgen gut zusammen.

The Dreyfus Affair: Krise im Kino

Allem Anschein nach ist dem so. Weshalb sich die Affäre zu einem Justizskandal ausweitet, der die Grande Nation spaltet und die Dritte Französische Republik in die Krise stürzt. Im Zuge derer kommt es im Februar 1899 fast zu einem Staatsstreich. Noch im selben Jahr, die Sache ist keineswegs ausgestanden, veröffentlicht Kinomagier George Méliès seine Sicht auf die Dinge. In elf kurzen Filmsequenzen zeichnet er die Schlüssel-Ereignisse von 1894 bis September 1899 nach. Vereint werden sie unter dem wenig überraschenden Titel The Dreyfus Affair. Es ist Méliès bis dato längster Film. Wobei die Bezeichnung Serie den Kern genauer trifft: Die elf Teile werden unabhängig voneinander vermarktet und aufgeführt.

The Fight of Reporters (oder The Fight of Reporters at the Lycée) ist der neunte Eintrag der Dreyfus-Serie. Wir befinden uns im Gynasium von Rennes, wo Dreyfus’ zweiter Kriegsgerichtsprozess nach der Aufhebung des ersten Urteils von 1894 stattfindet. Während einer Prozesspause kommt es zu einer lebhaften Diskussion unter den Journalisten. Diese sind, ebenso wie weite Teile der französischen Bevölkerung, gespalten in Anhänger und Gegner, in Dreyfusards und Anti-Dreyfusards. Nach einem heftigen Wortgefecht zweier renommierter Journalisten, Arthur Meyer (von der Le Gaulois, heute Le Figaro) und Madame Severine (von der feministischen La Fronde, erschienen 1897 bis 1905), entlädt sich die Aufregung in einem gewalttätigen Tumult. Schirme und Stöcke werden geschwungen, und für einen kurzen Moment herrscht absolutes Chaos im Bildausschnitt. Dann beginnen die Offiziellen im Gericht, den Saal zu räumen und die Meute stürmt auf die Kamera zu.

Macht und Hysterie der Medien

Der Journalisten-Clash im Lycée von Rennes symbolisiert die Hysterie der Medien, die gerade durch Skandale wie der Dreyfus-Affäre an der Schwelle des 20. Jahrhunderts befeuert wird; umgekehrt ist es das gesteigerte mediale Interesse, das Skandale wie diesen überhaupt erst in die Öffentlichkeit zerrt. Der Fall Dreyfus wäre wohl kaum zu einer nationalen Angelegenheit herangewachsen, hätten die Medien sich nicht auf lancierte Infos gestürzt und diese ausgeschlachtet. Andererseits gilt die Dreyfus-Äffare und insbesondere die öffentliche Stellungnahme Èmile Zolas (eingeleitet von den berühmten Worten J’accuse – Ich klage an) als Geburtsstunde des „intellektuellen Journalisten“, der in nationalistisch-konservativen Lagern als unpatriotischer Vaterlandsverräter geschmäht wird – eine Geisteshaltung, die wir heute in den Lügenpresse-Parolen von Pegida & Co. wiedererkennen.

Doch bevor wir in die Gegenwart abschweifen, bleiben wir im alten Frankreich. Kein Skandal ohne die Macht der Medien – keine Macht der Medien ohne Skandale: George Méliès macht sich diese Wechselwirkung zunutze. Das Medium zum Zwecke der Dokumentation einzusetzen, das ist bereits in der Frühphase des Films durchaus üblich (Mehr dazu, warum Journalisten gemeinsam mit den Bildern laufen lernten, gibt es hier und hier.) Aktuelles Zeitgeschehen in einem Film zu verhandeln, gar zu bewerten – Méliès Inszenierung legt Dreyfus’ Unschuld nahe – das hat sich vor Méliès jedoch kaum jemand getraut. Er betreibt gewissermaßen frühes Newsjacking, indem er einen Teil der medialen Aufmerksamkeit rund um die polarisierende Staatsaffäre abzwackt.

Der erste politisch zensierte Film?

The Dreyfus Affair gerät so selbst zu einem Politikum. Es gibt Berichte über wütende Zuschauer, die den auf der Leinwand gezeigten Kampf im Kinosaal fortführen und sich die Köpfe einschlagen. Worauf sich die französische Regierung entschließt, den Film zu indizieren. So ist es jedenfalls immer wieder zu lesen. Oftmals heißt es, The Dreyfus Affair gelte als der erste Film in der Geschichte, der aus politischen Gründen zensiert worden sei. Ob dieses Urteil so haltbar ist, ist inzwischen fraglich.

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So soll George Méliès seinen Film noch bis 1906 (das Jahr, in dem Alfred Dreyfus rehabilitiert wird) in seinem Katalog aufgeführt und verliehen haben. Es ist davon auszugehen, dass es lokale Kampagnen gegen die Aufführung gab. Landesweit auf dem Index landet der Film jedoch erst 1915: In diesem Jahr verbannt Frankreich alle filmischen Erzeugnisse aus den Kinos, die die Dreyfus-Affäre zum Thema haben. Ein Dekret, das die Regierung erst in den 1950er-Nachkriegsjahren lockert. George Méliès ist 36 Jahre tot, als „seine“ Dreyfus-Affäre auf die Filmprojektoren der Grande Nation zurückkehrt: 1974 – das Jahr, in dem ein anderer Skandal eine große Nation wachrüttelt: Watergate.

The Dreyfus Affair auf YouTube (The Fight of Reporters ab ca. Min. 6:35). Auch wenn alle 11 Teile als überliefert gelten: Da sämtliche Kopien auf einem 35 mm-Master aus dem Britisch Film Institute basieren, welches ohne die Episode 2 und 11 auskommt, findet man im Netz nur die neunteilige Fassung.

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