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Sarahs Schlüssel (2010): Zwischen Erinnerungskultur und Kitsch

In Sarahs Schlüssel spürt eine Journalistin dem Verbleib eines jüdischen Mädchens nach. Sie bewegt sich auf einem schmalen Grat. 

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In Sarahs Schlüssel spürt eine Journalistin dem Verbleib eines jüdischen Mädchens nach. Sie bewegt sich auf einem schmalen Grat. 

Text: Patrick Torma. Bildmaterial: Camino Filmverleih.

Am Morgen des 16. Juli 1942 werden die Starzynskis unsanft geweckt: Beamte wollen die jüdische Familie aus ihrer Wohnung abführen. Der zehnjährigen Sarah (Mélusine Mayance) gelingt es noch, ihren jüngeren Bruder Michel im Wandschrank des Kinderzimmers zu verstecken. Fortan trägt sie den Schlüssel zu seinem Schicksal bei sich.

Zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Vater wird sie zunächst ins Pariser Wintervelodrom gebracht – dort, wo früher einmal die Fahrräder kreisten, spielen sich dramatische Szenen ab. Für tausende Juden ist dies der Startpunkt einer Irrfahrt in den Tod, von hier aus werden sie ins Vernichtungslager Auschwitz verschickt. Der kleinen Sarah gelingt es auf halbem Wege, der Deportation zu entgehen. Sie versucht, sich zurück nach Paris durchzuschlagen. Ihre Gedanken dabei gelten einzig ihrem Bruder Michel, den sie zu beschützen versuchte …

Sarahs Schlüssel ist ein ergreifender Film - die fiktive Familiengeschichte vor dem Hintergrund echter Gräuel birgt aber auch Probleme.
Sarahs Schlüssel ist ein ergreifender Film – die fiktive Familiengeschichte vor dem Hintergrund echter Gräuel birgt aber auch Probleme.

Erinnerungsauftrag einer Journalistin

Sprung ins Jahr 2009: Die französische Krise ist inzwischen eine finanzielle – das weltweite Finanzbeben hat ein riesiges Loch in den Haushalt gerissen. In den Redaktionsräumen eines Pariser Magazins brüten sie über die Themen für die nächste Sonderausgabe. Um Bio- und Nanotechnologien soll es gehen, um den Wettlauf ins All, kurz: um die schöne, neue Welt, die uns in der Zukunft erwartet. Dann, wenn die Krise einmal vorbei ist. „Die Leute können Neues vertragen“, findet der Chefredakteur.

Reporterin Julia Jarmond (Kristin Thomas Scott) allerdings hält wenig davon, die Leserschaft mit Utopien zu sedieren. Sie möchte an die Judenrazzia im Juli des Jahres 1942 erinnern. Wie Not das tut, zeigt sich noch am Redaktionstisch – denn die anwesenden Nachwuchsjournalisten haben noch nie etwas vom Vélodrome d’Hiver, Mahnmal französischer Schuld im Zweiten Weltkrieg, gehört. Ihr Themenvorschlag kommt durch – doch die ohnehin nicht einfachen Recherchen werden erschwert, als sie erfährt, dass die Wohnung, die sie frisch bezieht, ausgerechnet im Sommer 1942 in den Familienbesitz ihres Mannes übergegangen ist und der Gegenstand ihres Artikels plötzlich private Bedeutung erlangt.

Lange ein Tabuthema in Frankreich

Sarahs Schlüssel ist ein Film wider das Vergessen, wie schon die sehr programmatische Eingangssequenz in der erzählten Gegenwart deutlich macht („Für die Meisten ist das etwas Neues“ – „Die jungen Leute müssen sich [für ihr Nicht-Wissen] entschuldigen“). Tatsächlich ist das Thema ein in Frankreich gern verdrängtes: Die Männer, die an die Türen hämmerten, um Männer, Frauen und Kinder abzuholen, waren keine Nazis, sondern französische Beamte – Kollaborateure, die ihren Beitrag zum Holocaust leisteten.

Über ihre Beteiligung wurde jahrzehntelang geschwiegen, erst in den 1990er-Jahren keimte das öffentliche Bewusstsein für die Mitverantwortung an diesem Menschheitsverbrechen. Präsident François Mitterand entschuldigte sich öffentlich. Ende der 2000er-Jahre, zur Entstehungszeit des Films, hatte Frankreich erste Achtungserfolge der Front National erlebt. Insofern wohnt Sarahs Schlüssel eine „Währet den Anfängen“-Botschaft inne. 2017 versuchte die rechte Partei, die Mitschuld zu revidieren, da das illegale Vichy-Regime keineswegs das echte Frankreich repräsentiert habe. 

Journalistin Julia (Kristin Thomas Scott) will den Opfern der Deportationen Gesicht und Geschichte zurückgeben.
Journalistin Julia (Kristin Thomas Scott) will den Opfern der Deportationen Gesicht und Geschichte zurückgeben.

Eine schmale Gratwanderung

Sarahs Schlüssel spannt den Bogen moralischer Verantwortung über die Zeitebenen hinweg, ist Kriegs-, Familiendrama und journalistische Detektivgeschichte in einem. „Manchmal können wir unsere eigene Geschichte nicht erzählen. Aber wenn man eine Geschichte nicht erzählt, wird sie irgendwann vergessen“, erklärt Reporterin Julia gleich zu Beginn aus dem Off – und liefert damit die Legitimationsgrundlage für eine Form der Erinnerungskultur, die zweifelsohne wichtig, weil massentauglich ist, gleichzeitig aber Gefahr läuft, den Holocaust auf melodramatische Weise zu trivialisieren. Diese Gefahr ist im Fall von Sarahs Schlüssel gegeben: Das Schicksal der jungen Sarah ist ergreifend, aber kein reales. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman der Schriftstellerin und Journalistin Tatiana de Rosnay.

Dass die kollektive Schuldfrage zur Filmmitte in einem persönlichen Dilemma heruntergebrochen wird – Julia ist schwanger, und das in einem fortgeschrittenen Alter, der karriereorientiere Gatte fordert einen Schwangerschaftsabbruch – ist dabei ein reichlich plakativer Kniff. Dass die Gegenwartshandlung in Sarahs Schlüssel nicht in ärgerlichem Kitsch versumpft, ist dem pietätvollen Spiel von Hauptdarstellerin Scott zu verdanken. Sie gibt eine engagierte, etwas zu obsessive, weil befangene, insgesamt aber menschliche und somit glaubwürdige Reporterin.

3.0
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