Das Angebot aus Russland klingt verlockend: Paul Jensen soll das Promi-Magazin Moskau Match inhaltlich wie optisch aufpimpen.
Das Angebot aus Russland klingt verlockend: Paul Jensen soll das Promi-Magazin Moskau Match inhaltlich wie optisch aufpimpen.
Dass Russland kein besonders angenehmes Pflaster für Journalisten ist, kommt ihm nicht in den Sinn. Bis er zwischen die Fronten tschetschenischer Freiheitskämpfer und russischer Geheimpolizisten gerät. Die vierte Macht öffnet endlich ihre Augen.
Text: Patrick Torma. Bildmaterial: UFA Cinema.
Von Paul Jensen (Moritz Bleibtreu) haben sie in Russland schon viel gehört. Eine Party-Kolumne aus der Berliner Szene hat dem Journalisten Beachtung eingebracht, zur Belohnung darf er nun in einem Moskauer Nobelrestaurant vom Kaviar naschen. Der Medienzar Onjegin (Rade Serbedzija) erhofft sich von Paul frische Impulse für sein Hochglanzmagazin Moskau Match. „Mehr Dynamik, mehr Features, mehr Stil“, formuliert Onjegin gleich drei Wünsche auf einmal. Paul willigt ein und macht aus seinem Engagement eine Familientradition. Schon sein Vater, Norbert Jensen, arbeitete mit Onjegin zusammen. Damals, in den Jahren nach dem Zusammensturz der UdSSR, hatte Moskau Match noch eine politische Identität. Doch die ist längst aufgegeben.
Der Job in Russland ist eine Flucht nach vorne
Dieser Wandel kommt Paul Jensen, der nie vorhatte, in die Fußstapfen seines alten Herrn zu treten, nicht ungelegen. Das Verhältnis zum Vater, der in der DDR als Chefredakteur einer Gewerkschaftszeitung eine große Nummer war, war stets belastet, der Mann, der Paul ein Vorbild hätte sein sollen, ließ die Familie in Stich und zog als freier Journalist nach Russland, wo er vor einigen Jahren durch einen Autounfall verstarb. Was wohl Pauls eigenes unstetes Leben erklärt – und dessen Vorliebe für unpolitischen Gossip. „Es geht nicht mehr darum, den Planeten zu retten. Wir leben nicht mehr in den 70ern“, lautet sein journalistisches Credo.
Gut möglich, dass Paul aufgrund dieser liederlichen Berufsauffassung in Russland gelandet ist und die Onjegins Offerte einen Ausweg aus der Beschäftigungslosigkeit darstellt. Wie er auf Nachfrage zugibt, hat er zuhause in Berlin ein Interview mit einem Prominenten frisiert, wenn auch „nur ein bisschen“. „Keine Bange. Menschen mit dubioser Vergangenheit kommen in dieser Stadt weit“, erteilt Dima (Max Riemelt) seinem Gast die Absolution.
Ein Journalisten-Mord öffnet Paul Jensen allmählich die Augen
Der Redaktionsfotograf führt Onjegins Stareinkauf ins Moskauer Nachtleben ein. Elektro-Orgien in orthodoxen Kathedralen, Ostblock-Champagner in Strömen und hemmungsloser Sex mit neureichen Ladies – Russland und seine Klischees sind ganz nach Pauls Geschmack. Doch der Kater im Party-Paradies lässt nicht lange auf sich warten. Der Journalist Sokolow (Reiner Schöne) wird vor Pauls Augen auf offener Straße erschossen. „Er wurde ermordet, weil er für Gerechtigkeit kämpfte“, ordnet Sokolows Kollegin Katja (Kasia Smutiak) die Sachlage ein. Ihr zuliebe schummelt Paul einige würdigende Zeilen in die nächste Ausgabe. Doch bereits dieser kleine Nachruf ist in Russland heikel. „Das ist nicht Berlin“, staucht der Chefredakteur den Neuen zusammen. „Wir sind ein Promi-Magazin, und das ist der Grund, warum sie uns in Ruhe lassen.“
Katja übt einen – im journalistischen Sinne – guten Einfluss auf Paul aus. Sie ist der Gegenentwurf zu diesem oberflächlichen Hallodri, der Russland nur von der Tanzfläche aus betrachtet. Katja nimmt als Journalistin eine klare, regierungskritische Haltung ein und ist bereit, für ihre Überzeugungen Risiken einzugehen. Mit Paul besucht sie eine öffentliche Demonstration. Die russische Regierung versucht in diesen Tagen, verschärfte Anti-Terrorismus-Gesetze durchzudrücken – mit Folgen für die Freiheit des Einzelnen. Paul öffnet allmählich seine Augen für die Belange der einfachen Bevölkerung, die sich nichts aus ausgesagten Clubs und teuren Statussymbolen macht. Nach einer Party verabschiedet sich Katja verdächtig emotional. Sie betritt den Eingang einer U-Bahn-Station, wenige Augenblicke reißt eine gewaltige Explosion Paul mit. Der Journalist wacht in der „Obhut“ des Geheimdienstes auf. Katja habe eine Bombe bei sich gehabt, erläutern die Agenten. Und Paul wird plötzlich der Beihilfe zum Terrorismus im Namen der kaukasischen Opposition verdächtigt …
„Terror schweißt zusammen – das ist historisch belegt.“
Dennis Gansels (Napola, Die Welle) Die vierte Macht sattelt auf wahren Begebenheiten auf: Der Film thematisiert das zerrüttete Verhältnis zwischen Russen und Tschetschenen. Zum Zeitpunkt der Filmhandlung ist der Zweite Tschetschenien-Krieg (1999 bis 2009) noch frisch in den Köpfen, inzwischen regiert in der autonomen Region im Nordkaukasus ein pro-russischer Präsident. An der Schwelle des neuen Jahrtausends waren russische Truppen in die Region einmarschiert – als Reaktion auf eine Serie von Bombenanschlägen, die im Sommer 1999 auf Moskauer Wohngebäude verübt wurden.
Annähernd 370 Menschen starben, über 1.000 wurden verletzt. Die russische Regierung machte tschetschenische Separatisten für diese Anschläge verantwortlich, der frisch ernannte Ministerpräsident, ein gewisser Wladimir Putin, festigte mit seinem konsequenten Vorgehen in der Tschetschenien-Frage seine Macht. Die offiziellen Untersuchungsergebnisse gelten als umstritten. Nicht staatliche sowie ausländische Beobachter*innen verweisen auf Indizien, die nahelegen, dass der Anschlag ein „Inside Job“ des russischen Geheimdienstes FSB gewesen sein könnte. Die Ermittlungsakten wurden von der Regierung als geheim eingestuft, bleiben noch rund 70 Jahre unter Verschluss.
Auch ohne die Gewissheit aus diesen Dokumenten: Die vierte Macht stellt von der ersten Minute an klar, was er von den amtlichen Verlautbarungen Russlands hält. Der Film steigt mit einem Flashback ins Jahr 1998 ein. Wenige Minuten bevor eine Bombendetonation in einem Plattenbau das nächtliche Moskau erschüttert, machen Nachbarn verdächtige Beobachtungen. Diese Zeugen wurden nie angehört, wie Paul noch herausfindet. Wie, das lassen wir an dieser Stelle unbeantwortet. „Terror schweißt zusammen. Das ist historisch belegt“, bekommt der Journalist hören, „die Menschen interessieren sich nicht für die Wahrheit. Die Menschen interessiert die Zukunft.“ Selbst wenn sich Paul Jensen zum Super-Journalisten aufschwingen würde, was könnte er angesichts dieser Spielregeln noch ausrichten?
Der Titel Die vierte Macht ist eher Wunsch als Ist-Beschreibung
Überhaupt ist Die vierte Macht ein wagemutiger Titel, eher Wunsch als Ist-Beschreibung. Die im Film gezeigte russische Presse ist nichts weiter als ein kümmerlicher Rest, eine Beschaffungsmaßnahme für Schreiberlinge, Fotografen und Layouter. Wer ernsthaften Journalismus betreibt, sprich: die politischen Verhältnisse hinterfragt, gerät ins Fadenkreuz des Geheimdienstes. Der tödliche Anschlag auf Sokolow spielt auf die Ermordung von Anna Politkowskaja im Jahre 2006 an. Die russische Journalistin hatte vielfach auf Widersprüche zu den offiziellen, russischen Darstellungen rund um den Tschetschenien-Krieg ab 1999 hingewiesen, aber auch Kriegsverbrechen der russischen Truppen aufgedeckt. In nationalistischen Kreisen galt sie deswegen als Netzbeschmutzerin, was ihr womöglich zum Verhängnis wurde.
Die vierte Macht mag als deutscher Beitrag wie eine ehrenwerte wie anmaßende „Einmischung in innere Angelegenheiten“ Russlands wirken, wie Lars-Olav Beier in seiner Kritik für den Spiegel angesichts der schwarz-weißen Rollenverteilung zwischen russischem Geheimdienst und tschetschenischer Freiheitsbewegung anmerkt. Klar ist aber auch: Ein Land ohne freie Preise ist nicht frei. Auf der aktuellen Rangliste von Reporter ohne Grenzen zur Pressefreiheit auf dieser Welt (für das Jahr 2021) findet sich das flächenmäßig größte Land der Erde auf Platz 150 von 180 Staaten wieder (Link führt zur kompletten Rangliste als Download) – und schneidet damit schlechter ab als Myanmar, Mexiko oder der Südsudan. Inhaftierte Journalisten und Blogger, staatliche Kontrolle der Medien und ihrer Nutzer durch die Roskomnadsor-Behörde, Abschaltung von Internetseiten, gezielte Desinformation – die Mängelliste liest sich wie der Maßnahmenkatalog eines Schurkenstaates.
Die Presse muss ihre Macht noch unter Beweis stellen
Ob Paul Jensen von alledem eine Vorstellung hatte, als er sich in Schönefeld in den Flieger schwang? Sollte er keine gehabt haben, er wäre wohl der größte Ignorant, der jemals für eine Zeitung arbeitete. Daher wollen wir ihm zumindest eine Ahnung unterstellen, was das Klima für Journalisten betrifft. „Boah, Schweiß-Wetter hier“, nörgelt Paul unmittelbar nach seiner Ankunft. „Das ist Russland, Mann“, entgegnet Dima vielsagend. Da verwundert es nicht, dass Regisseur Dennis Gansel das Happy End ebenfalls nach Deutschland verlegt. Paul kehrt geläutert und mit der Wahrheit im Gepäck zurück. Was seine Recherchen in Russland bewirken, bleibt offen. Dass sie noch immer eine Macht ist, muss die Presse noch unter Beweis stellen. Aber zumindest ist sie endlich mal zur Stelle. So gesehen, ist der Titel als ein hoffnungsvolles Foreshadowing zu verstehen. Die passendere Überschrift, in Anlehnung an eine nicht ganz unwichtige Space-Opera-Trilogie, wäre wohl Das Erwachen der vierten Macht gewesen.
Link-Tipps:
Zur Lage der Pressefreiheit in Russland: Die Themen-Seite “Russland” der Reporter ohne Grenzen.
Dennis Gansel spricht in journalistenfilme.de – der Podcast über die Chancen einer Neuverfilmung von Vaterland.
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COMMENTS
Hallo Patrick,
wieder ein Film, den ich mir nach deiner Empfehlung angesehen habe. Und wie du geschrieben hast, ist der Titel eher Wunsch als Wirklichkeit. Zwei Szenen haben mich extrem irritiert. Als Paul und Katja im Büro stehen und Paul unvermittelt behauptet, sein Vater hätte ihm immer Rätsel aufgegeben… Hä? Wann? Das war nie zu sehen, kein Rückblick deutete daraufhin. Insgesamt scheint es mir eher so, als dass die Bindung zwischen Sohn und Vater nicht existierte. Und auch das Ende fand ich unpassend. Als der Taxifahrer fragt, ob er Paul mitnehmen soll und der vieldeutig lächelt und sagt “Ich komme zurecht. Ich komme zurecht.” Alles in allem unterhält der Film gut, aber ohne Substanz.
Grüße
Valerie
Hallo Valerie,
muss gestehen, dass ich den Beitrag vor über einem Jahr geschrieben habe, und nicht mehr alles so präsent ist. Aber ich stimme Dir zu, die Vater-Geschichte ist nicht richtig auserzählt, wirkt etwas aufgesetzt. Ich denke, sie ist hauptsächlich ein Vehikel, um einerseits die Verbindung von Paul zu einer russischen Redaktion plausibel zu machen, andererseits den Wandel des einst politischen Magazin zu einer Klatsch und Tratsch-Postille zu unterstreichen. Außerdem erklärt sie, ohne es zu erklären, warum Paul nicht zunächst nicht in die investigativen Fußstapfen treten will (keine Zeit für die Familie), es aber dann doch tut (der Apfel fällt nicht weit vom Stamm).
Was das Ende betrifft: In meiner Erinnerung endet der Film vor dem Fernseher, über den Pauls Recherchen flimmern. So wie Du es beschreibst, finde ich es ziemlich klassisch. Er muss sich nicht mehr von anderen kutschieren lassen, hat das Steuer über sein berufliches Leben im Griff. Was findest Du daran unpassend?
Viele Grüße, Patrick