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Òlòtūre (2019): Undercover auf dem Strich

Òlòtūre weist auf das Leid afrikanischer Sex-Arbeiterinnen hin. Anstoß liefert eine Journalistin, die als Prostituierte in die Szene eintaucht.

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Òlòtūre weist auf das Leid afrikanischer Sex-Arbeiterinnen hin. Anstoß liefert eine Journalistin, die als Prostituierte in die Szene eintaucht.

Text: Patrick Torma. Bildmaterial: Netflix.

Ehi (Sharon Ooja) ist „eine Journalistin mit mehr Mut als Verstand“. So urteilt Emeka (Blossom Chukwujekwu), leitender Redakteur bei der nigerianischen Zeitung „The Scoop“, über seine Kollegin. Tatsächlich steigt die Protagonistin recht sorglos in die Abgründe der Prostitution auf den Straßen der Millionenmetropole Lagos hinab. Als wäre ihr nicht klar, dass sie als vermeintliche Prostituierte unweigerlich mit schmierigen Männern in Berührung kommt.

Andauernd stößt sie Freier von sich, lehnt Alkohol zum „Lockermachen“ ab. Das ist vernünftig und gesund. Jedoch ist ihr Verhalten derart auffällig, dass man(n) glaubt, ihre Tarnung müsste in jedem Moment auffliegen. Doch offensichtlich ist so manches Blut in niedere Körperregionen gerauscht: Lange schöpft niemand Verdacht. Im Gegenteil: Ehi scheint mit ihrer ungespielten „Masche“ als unschuldige und somit „unverbrauchte“ Quereinsteigerin einen Nerv bei den Männern zu treffen. „Ich war schon immer eine gute Schauspielerin“, lobt sie sich selbst, als Emeka zu einem Kontrollbesuch auf dem Strich vorbeifährt.

Heiße Eisen: Prostitution und Menschenhandel

Zwar scheint Ehi eingangs nicht bewusst, welcher Gefahr sie sich aussetzt. Wohl aber, worauf ihre Recherchen abzielen. Denn ihr geht es nicht „nur“ darum, auf die unschönen Arbeitsbedingungen nigerianischer Sex-Worker:innen aufmerksam zu machen. Die Journalistin beabsichtigt vielmehr, einen systematischen Menschenhandel aufzudecken: Mit dem Versprechen auf ein besseres Leben werden junge Frauen aus ganz Afrika nach Europa verschifft, wo sie wie Sklavinnen zu weiterer Prostitution gezwungen werden. Als Ehi über eine befreundete „Kollegin“ an die Selfmade-Puffmutter Alero (Omoni Oboli) gerät, kommt sie den skrupellosen Hinterleuten immer näher …

Òlòtūre ist eine Netflix-Produktion made in „Nollywood“, die in der Darstellung dessen, was den Frauen auf der Straße passiert, vielleicht nicht so verstörend der exil-iranische Thriller Holy Spider (wo die Kamera erbarmungslos draufhält) daherkommt, dennoch hart an der Schwelle zum Unerträglichen operiert. Nur so viel als Trigger-Warnung: Ehi wird im späteren Verlauf vergewaltigt und verschleppt. In den Fängen der Menschenhändler sind Frauen nicht mehr als austauschbare Ware, sie erfahren das komplette Spektrum körperlicher und psychischer Gewalt. In einem Fall wird die Reporterin sogar Zeugin eines grausamen Mordes.

Ehi (Sharon Ooja) agiert als Fake-Prostituierte Òlòtūre weitestgehend auf eigene Faust. Redaktionellen Halt bietet ihr, mehr oder minder, lediglich ihr Kollege Emeya (Blossom Chukwujekwu).

Beruhend auf den Recherchen einer Journalistin

Das alles ist starker Tobak. Wer auf die Idee kommt, dieses Crime-Drama sei konstruiert: Òlòtūre orientiert sich an wahren Ereignissen. Der Film verweist in einer Texttafel zum Abspann hin auf das Ausmaß der Sexsklaverei, die tausende Frauen betrifft und hunderte Millionen Dollar umsetzt. Dort wird auch die „Inspirationsquelle“ benannt: Òlòtūre basiert zum Teil auf den Erfahrungen von Tobore Ovuorie.

Die nigerianische Investigativjournalistin lebte in Lagos sieben Monate undercover auf dem Straßenstrich, wurde geschlagen und beinahe tödlich verletzt, bis sie sich eine Überfahrt nach Italien „verdiente“ – der Beleg für die Existenz eines global vernetzten Schleusergeschäfts. Mit dem Bus wurde sie mit weiteren Sex-Arbeiterinnen nach Benin gebracht. Während dieser Tour musste sie mit ansehen, wie zwei ihrer Mitfahrerinnen enthauptet wurden – wohl, weil die Mörder mit ihren Organen Kasse machen wollten. Später gelang es ihr, dem unglückseligen Treck entkommen. Bis heute leidet die Reporterin an posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Risiken, die sie seinerzeit einging, seien dies allerdings wert gewesen, betonte Ovuorie rückblickend. Nicht zuletzt führten ihre Berichte dazu, dass in Nigeria Ermittlungen gegen einen Menschenhändlerring eingeleitet wurden.

Das reale Vorbild für Òlòtūre: Tobore Ovuorie

Die Parallelen zwischen Òlòtūre und Tobore Ovuories Geschichte sind offensichtlich. Doch: Weder war die Reporterin am Drehbuch beteiligt, noch gab sie ihr Einverständnis zur Verfilmung. Die hätte Ovuories Anwälten zufolge erfolgen müssen, sowohl aus urheber- als auch persönlichkeitsrechtlichen Gründen, nicht zuletzt weil ihre Klientin zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch immer unter den Folgen der traumatischen Ereignisse gelitten habe. Als Entschädigung forderte Ovuorie von den Filmemacher:innen zwischenzeitlich 5 Millionen Dollar für einen guten Zweck. Der Streit wurde beigelegt, als sich abzeichnete, welche Aufmerksamkeit der Film für das Sujet der Prostitution in Afrika erzeugte: In gleich mehreren Ländern schaffte es Òlòtūre in die Top 10 der meistgesehenen Netflix-Filme.

Erst die Verfilmung verhilft dem Scoop zu globaler Reichweite. Dramaturgisch ist der Journalismus in Òlòtūre lediglich ein Mittel zum Zweck. Momente echter journalistischer Arbeit sind rar: So Ehi agiert weniger als Reporterin (sieht man von ihren sporadischen Treffen mit Emeka ab, in denen sie ihre Auftraggeber pflichtschuldig auf Stand bringt), sondern als mitfühlende Leidensgenossin. Sie nimmt andere Mädchen in den Arm und versucht, die Verhältnisse im Kleinen zu verbessern.

Die Funktionen des Journalismus in Òlòtūre

Ihre Profession ist vor allem ein formaler Kniff. Als investigierende Outsiderin nimmt sie eine Fish out of water-Perspektive ein. Das erleichtert uns die Identifikation. So zynisch es klingen mag: Einer Frau, die sich freiwillig einem unmenschlichen System aussetzt, um es zu Fall zu bringen, fliegen wohl eher die Sympathien zu als einer gewöhnlichen „Professionellen“.  

Darüber hinaus bietet der Journalismus eine Aussicht auf einen Ausstieg: Ehi ist nur zu Besuch in diesem Milieu – im Rücken wartet eine Redaktion, die im Notfall eingreifen kann. Zumindest in der Theorie. Denn die Männerriege am bequemen News-Desk interessiert sich nur halbherzig für das Befinden der Undercover-Reporterin. Das Thema genießt nicht den größten Zuspruch, weil man(n) es sonst mit den Mächtigen aufnehmen müsste. Einzig und allein Redakteur Emeka, der Gefühle für Ehi hegt, schaut regelmäßig nach dem Rechten, weiß aber auch nicht so recht, welche Rolle er letztlich einnehmen soll.

Ein verfilmter Scoop ohne Happy End

Er besitzt keinerlei Vorstellung vom Leben auf der Straße, seine Sorgen sind diffus. Er lässt Ehi gewähren. Umgekehrt pflegt die Reporterin nicht den engsten Kontakt zur Redaktion. Sie gibt vor, ihre Tarnung nicht gefährden zu wollen. Zwischen den Zeilen gibt sie allerdings auch zu verstehen: Ernsthafte Unterstützung erwartet sie von den männlichen Kollegen nicht wirklich. Fakt ist: Für eine investigative Recherche dieser Größenordnung ist Ehi viel zu sehr auf sich allein gestellt.

Die Männer in Òlòtūre sind entweder Täter oder Tatenlose, und wenn sie wie Emeka doch mal zur Tat schreiten, sind sie zum Scheitern verurteilt. Es ist sicherlich ein Wink ans Patriarchat, wenn sich im Finale des Films zeigt, dass – Achtung, Spoiler – niemand willens oder in der Lage ist, Ehi aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Die Reporterin wird von den Menschenhändlern außer Landes gebracht, wodurch sie endgültig aus der Einflusssphäre der nigerianischen Behörden verschwindet. Ganz nebenbei untergräbt Òlòtūre mit dem Verzicht aufs Happy End die Wirkmächtigkeit der Medien – was insofern interessant ist, als dass der Film von den echten Recherchen einer mutigen Reporterin inspiriert ist. Auf der anderen Seite gibt sich der Film keinen allzu großen Verklärungen hin: Die Presse allein kann derart riesige Missstände nicht beseitigen.

3.0
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