Ein Filmteam begleitet einen Mann bei seiner Arbeit. In Zeiten von Reality-TV ist das nichts Besonderes. Doch Benoît geht keinem Allerweltsberuf nach
Ein Filmteam begleitet einen Mann bei seiner Arbeit. In Zeiten von Reality-TV ist das nichts Besonderes. Doch Benoît geht keinem Allerweltsberuf nach. Er verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Töten von Menschen. Und die Kamera? Sie hält nicht nur voll drauf. Sie geht dem Killer zur Hand.
Von Patrick Torma. Bildmaterial: Les Artistes Anonymes
Mann beißt Hund. Der Titel der belgischen Mockumentary aus dem Jahre 1992 ist ein Wink mit dem Zaunpfahl. Jeder, der sich auch nur im entferntesten Sinne mit den Mechanismen der Medien beschäftigt, kennt folgendes Zitat, das je nach Überlieferung journalistischen Pionieren wie John B. Bogart, Amos Cummings oder Charles A. Dana zugeschrieben wird: „When a dog bites a man, that’s not news. But when a man bites a dog, that’s news.“ Der Normalfall ist uninteressant. Der Störfall aber, der besitzt einen Nachrichtenwert.
Nach dieser Maxime handeln Journalisten schon seit Generationen – zum Leidwesen jener, die sich den Hintern aufreißen, damit der Störfall niemals eintritt. Böse Journalisten. Was die andere Seite – die Seite der Rezipienten – oftmals nicht wahrhaben will: Bei der Formel Mann beißt Hund handelt es sich nicht um einen journalistischen Leitsatz, sondern um eine stillschweigende Vereinbarung zwischen Medien und Mediennutzer. Berichtet wird über das, was Quote bringt. Wen interessiert es schon, von der Crew und den Passagieren an Bord abgesehen, wenn ein Flugzeug nicht abstürzt?
Mediensatire und Charaktertest
Mann beißt Hund hält genau jenem Regelkreis den Spiegel vor. Vordergründig ist der Film eine bitterböse Mediensatire. Drei junge Filmemacher gehen für eine gute Reportage sprichwörtlich über Leichen. Sie beschränken sich nicht nur darauf, das mörderische Treiben von Benoît, kurz Ben, zu dokumentieren. Mit zunehmender Faszination für den charismatischen, kultiviert daher parlierenden Ben geben sie ihre Distanz auf. Anfangs spendieren sie ihrem Hauptdarsteller in einer dunklen Ecke etwas Licht, damit der sein nächstes Opfer besser umlegen kann. Kurze Zeit später helfen sie bereits bei der Beseitigung weiterer Leichen. Wer gutes Filmmaterial haben möchte, der muss schon mit anfassen, lässt Ben durchblicken. Als Gegenleistung hilft der blutlüsterne Freiberufler bei der Finanzierung der Dokumentation aus – mit der Beute aus seinen Raubmorden, versteht sich.
So werden Aufnahmeleiter Rémy und seine Kollegen immer mehr zu Mittätern. An ein Aussteigen ist nicht zu denken: Selbst als ihr Tontechniker bei einer Schießerei ums Leben kommt, macht das restliche Team weiter. Mehr noch: Im Blutrausch der Bilder spornen sie Ben zu noch schlimmeren Mordtaten an. Die gelegentlichen Überfälle auf wehrlose Rentner kicken nicht mehr. Warum er nicht mal etwas Großes macht, wollen Rémy und der Kameramann bei einem Bier wissen. Ben wiegelt ab: „Ich mag keine Schlagzeilen.“ Noch sieht er sich als Hund, der beißt. Und doch fühlt er sich geschmeichelt. Im Glanz des Scheinwerferlichts lebt er seinen Narzissmus immer offener aus, dabei unterlaufen ihm zunehmend Fehler.
Mann beißt Hund legt es darauf an
Lange deckt sich die Faszination des Filmteams mit der des Zuschauers. Keine Frage, Ben ist ein Psychopath. Schon die allererste Szene von Mann beißt Hund macht unmissverständlich klar, dass wir es mit einem kranken Geist zu tun haben. Abseits seiner Verbrechen jedoch tritt Ben (brillant gespielt von Benoît Poelvoorde) als liebevoller Familienmensch auf, als weltgewandter Lebemann, der gutes Essen liebt und Gedichte rezitiert. Bei einem Spaziergang sinniert er eloquent über die Architektur und Gestaltung von Sozialsiedlungen. Hätte er etwas zu Sagen, würde er weniger in die Höhe bauen, dafür die Straßen mit Kirschbäumen säumen lassen. Schließlich leben auch am unteren Rand der Gesellschaft Menschen mit Sinn für Ästhetik.
Der Mann, der die Anonymität großer Kasernenbauten für seine Mordtaten ausnutzt, appelliert an eine humane Stadtplanung. Beinahe ist man geneigt, so jemanden wie Ben für das Amt des Baudezernenten vorzuschlagen, da jagt er einer alleinstehenden Pensionärin einen tödlichen Schrecken ein. Die herzkranke Dame verreckt auf ihrem Sofa. Ben sieht zu und freut sich anschließend, dass seine Waffe unbenutzt bleibt: „Das ist das Beste für alle“, hält er lakonisch fest und macht sich an den Sparreserven seines Opfers zu schaffen. Das Filmteam fordert er auf, auch etwas einzustecken. „Ist genug für alle da.“
Erkenntnis ganz ohne Meta-Spielchen
Uff. Das muss man erst mal sacken lassen. Noch gibt uns Mann beißt Hund die Gelegenheit. Zartbesaitete mögen an dieser frühen Stelle bereits aussteigen. Für die anderen geht der derbe, politisch inkorrekte Spaß in die nächste Runde. Doch irgendwann ist jede persönliche Schmerzgrenze geknackt. Mann beißt Hund legt es darauf an. Die Belgier setzen zu immer schnelleren und tieferen Schlägen an. Spätestens wenn die episodenhaften Eskapaden in dem finalen Exzess kulminieren, der in seiner Widerlichkeit kaum zu übertreffen ist, setzt das sprichwörtliche Erwachen am nächsten Morgen ein. Den Zuschauer überkommt es plötzlich. Wie Gewissensbisse nach einer hemmungslosen Nacht. Was zum Teufel ist da passiert? Bis wohin hatte ich meinen Spaß? Und ab wann war ich nicht mehr Herr meiner Sinne?
Auf einmal ist klar: Mann beißt Hund prangert nicht nur die Sensationsgeilheit der Medien an. Er testet den eigenen Voyeurismus. Wie viele Filme treten diesen Versuch an und scheitern an ihrer Offensichtlichkeit? Michael Haneke reißt in Funny Games die vierte Wand ein, um den Zuschauer mit dem erhobenen Zeigefinger zu rügen. Mann beißt Hund benötigt keine Meta-Spielereien. Am Ende kommt niemand und zeigt mit dem Finger. Das überlasst der Film schön uns.
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