Wir blicken auf die Produktions- und Rezeptionsgeschichte von Borat und fragen uns: Wie viel Journalist steckt eigentlich in der Kunstfigur?
Wir blicken auf die Produktions- und Rezeptionsgeschichte von Borat und fragen uns: Wie viel Journalist steckt eigentlich in der Kunstfigur?
TV-Journalist Borat, Kasachstans kontroversester „Export-Schlager“, feiert in diesen Tagen sein Comeback. In Borat: Anschluss-Moviefilm lässt der britische Komiker Sacha Baron Cohen seine Kunstfigur erneut auf die USA los. Wir blicken auf die Produktions- und Rezeptionsgeschichte seiner ersten Mockumentary Borat – Kulturelle Lernung von Amerika, um Benefiz für glorreiche Nation von Kasachstan zu machen – und fragen uns: Wie viel Journalist steckt eigentlich in Borat?
Text: Patrick Torma. Bildmatertial: 20th Century Fox.
Mitte der 2000er-Jahre ist Borat ein Phänomen, das die Gemüter spaltet. Die einen lieben ihn für seinen subversiven Humor, die anderen halten ihn für einen fahrlässigen Brandstifter. Egal, welchem Standpunkt man sich auch anschließen mag: Die Blütezeit von Borat bleibt hängen als eine Zeit, in der kaum ein Männergeburtstag oder Junggesellenabschied ohne den ikonischen Man-Kini als Gag-Geschenk auskommt. Außerhalb der Partykeller allerdings sind die Nachwehen weniger zum Lachen – der Film verursacht diplomatische Zwischenfälle und zieht juristische Auseinandersetzungen nach sich. Dennoch – oder gerade deswegen – ist Borat ein voller Erfolg.
Borat: auf dem Höhepunkt in den Ruhestand
Die Figur ist derart populär, dass Sacha Baron Cohen seine Paraderolle 2007 auf dem Höhepunkt in den Ruhestand schickt. Der Bekanntheitsgrad des kasachischen Starreporters mit dem imposanten Schnauzer mache es ihm unmöglich, die Leute weiter reinzulegen, begründet der Comedian die Entscheidung. Nach einigen flüchtigen Wiederauferstehungen – 2015 etwa taucht der Krawall-Journalist anlässlich der bevorstehenden Premiere von Baron Cohens neuestem Film Grimsby in der Jimmy Kimmel Show auf – kehrt Borat dieser Tage mit einer neuen „Dokumentation“ zurück.
Was die Frage aufwirft: Ist Borats Berühmtheit dermaßen verblasst, dass er die Amerikaner wieder ungeniert foppen kann? Der Trailer von Borat: Anschluss-Moviefilm liefert die Antwort vorweg: „People make recognize my face. I would need disguises“, erklärt der Reporter aus dem Off. Die Maskerade einer Maskerade zum Zwecke der Demaskierung.
Früher war alles besser? Borat und sein Comeback unter Trump
2006 heißt der Präsident der Vereinigten Staaten George W. Bush. Ein Staatsoberhaupt, das außerhalb der Staaten als unfähig, gefährlich und als das Gesicht einer aus den Angeln gefallenen Großmacht wahrgenommen wird. Es ist das Jahr, in dem Borat die Bigotterie einer US-amerikanischen Gesellschaft vorführt, die sich und ihre Werte für fortschrittlich hält, jedoch von rückständigem, fremdenfeindlichem Gedankengut durchsetzt ist. Soweit ist es gekommen: 2020 fühlt sich die Ära Bush fast schon an, als sei die Welt damals noch in Ordnung gewesen. Donald Trumps postfaktische Kakophonie betäubt die Erinnerungen an die Lügen seines kriegstreiberischen Vorvorgängers.
Es ist daher sicher kein Zufall, dass Borat: Anschluss-Moviefilm wenige Tage vor den US-Wahlen am 3. November 2020 exklusiv im Streamingangebot des VOD-Anbieters Amazon erscheint (in Deutschland am 23. Oktober). Es ist zu erwarten, dass Cohens Alter Ego die Sollbruchstellen einer gebeutelten Nation offenlegt. Ein Ausschnitt zeigt Borat in einer privaten Quarantäne-Situation. Fragend wendet er sich an seinen Gastgeber: „What is more dangerous? This virus? Or the democrat?“ Die Antwort folgt wie aus der Pistole geschossen. In einer anderen Szene stört Borat als Trump verkleidet eine Wahlkampfveranstaltung des republikanischen Vizepräsidenten Michael Pence („Michael Penis! I brought a girl for you!“). Daneben präsentiert der Trailer eine ganze Reihe derber Zoten, die erneut die Grenzen des guten Geschmacks ausloten. Wie weit Borat tatsächlich geht, schauen wir uns dann nach Filmstart in einem eigenen Beitrag auf journalistenfilme.de an.
Borats Siegeszug in der Da Ali G Show und frühere Darstellungen
Der Siegeszug des fiktiven Reporters ist eng mit dem Erfolg einer anderen Kunstfigur aus dem Repertoire Sacha Baron Cohens verknüpft. Anfang der 2000er-Jahre landet der Mime mit seiner Da Ali G Show einen Comedy-Hit. Host Ali G ist Baron Cohens Parodie eines selbstüberschätzenden Gangsta-Rappers, der seine Gäste – darunter Stars, Politiker und Experten – mit hanebüchenen, politisch inkorrekten Fragen eindeckt. In diesem Umfeld „wächst“ der kasachische TV-Journalist Borat Sagdiyev auf. Zur Stammbesetzung der Show gehört außerdem eine weitere Rolle mit journalistischem Background: Brüno. Der homosexuelle Modereporter aus Österreich zieht 2009 mit einer eigenen Kino-Mockumentary nach.
Borat geht auf frühere Darstellungen durch Baron Cohen zurück. In seiner ersten großen Sendung F2F – eine Mischung aus Talk- und Call-In-Show und Sketchparade – tritt Baron Cohen von 1996 bis 1997 als Reporter Alexi auf. Die Figur überlebt das Format und mischt unter anderem Paramount Comedy 1, einen Vorläufersender von Comedy Central, auf. Sie hört nun auf den Namen Kristo und stammt dem Skript nach aus Albanien.
Borat heißt vorher Kristo und stammt aus Albanien
Optisch kommt Kristo dem späteren Borat schon sehr nahe. Mit den schlecht sitzenden Anzügen und dem massiven Schnurrbart sind zwei Markenzeichen bereits vorhanden. Was fehlt, ist das wilde krause Haar – Kristos Frisur ist verhältnismäßig gestriegelt. Baron Cohen lässt die Figur kurz ruhen, bevor er sie ab 2000 zu einem festen Bestandteil der Da Ali G. Show macht. Kristo aus Albanien wird zu Borat Sagdiyev aus Kasachstan. Eigentlich habe er nur die Wartezeit auf das unverschlüsselte Teaser-Programm des Fantasy Channels überbrücken wollen, erklärt Ali G in der Eröffnungsfolge seiner Show. Beim Zappen durch das internationale Senderangebot sei ihm der skurrile Fernsehreporter aufgefallen.
Als mögliche Inspiration für den „Feinschliff“ des Charakters gilt der türkische Journalist Mahir Cagri. Cagri wird zum Internet-Meme, lange bevor es diesen Begriff überhaupt gibt. 1999 veröffentlicht er eine Website, die im Wesentlichen nicht mehr als eine kurze, aber intime Vorstellung und einige Schnappschüsse bereithält. Die in einfachem Englisch gehaltenen Sätze trotzen vor grammatikalischen Fehlern und sind obendrein reichlich absurd. Zum geflügelten Begriff im Netz wird Cagris Begrüßungsphrase „I kiss you !!!!!“ (nur echt mit fünf Fragezeichen). Mittendrin, unter einer Urlaubsfotografie, prangt der Satz: „I like Sex“. Ein Ausspruch, der so auch in Borats kulturellen Lernung vorkommt.
Journalist Mahir Cagri –
das reale Vorbild für Borat?
Auch äußerlich erinnert Cagri an Borat: Weite Anzüge, enge Badehosen, das krause Haar auf einigen Bildern – die Ähnlichkeit ist verblüffend. Sacha Baron Cohen wird sich zu diesen Übereinstimmungen nie äußern. Der Schöpfer beharrt auf seiner Darstellung, Borats Gestalt und Manierismen seien an einen Arzt angelehnt, dem er einst in Russland begegnet sei. Was Cagri, der seinen „Ruhm“ als Internet-Phänomen und vermeintliches Borat-Vorbild gewinnbringend einzusetzen versucht, natürlich nicht gerne hört. Der ledert in der Presse ab und denkt zwischenzeitlich öffentlich über eine Klage nach, versucht in der Folge jedoch ohne viel Aufhebens das Beste aus seiner Situation herauszuschlagen.
Ali G avanciert derweil zu einem echten Hit. Seine Show bringt es von 2000 bis 2004 auf drei Staffeln. Borat gehört zum festen Inventar der Sendung, wobei der antisemitisch und chauvinistisch veranlagte Reporter in Staffel 1 mit der Lebensart der feinen britischen Gesellschaft vertraut gemacht wird. Dabei verstrickt er seine Mentoren und Gastgeber in unangenehme Situationen. Borat crasht einen Benimmkurs, besucht die Cambridge University sowie die ehrwürdige Henley Royal Regatta und entblößt bei diesen Gelegenheiten die Engstirnigkeit der kultivierten, intellektuellen Eliten. Die „Opfer“ sind in aller Regel nicht eingeweiht und gehen davon aus, dass sie es mit einer Anfrage des echten kasachischen Fernsehens zu tun haben.
Noch vor dem Film: Borat
macht die USA unsicher
Die erste Staffel ist ein Sprungbrett, schon mit der zweiten Staffel wechselt die Show von Channel 4 zu HBO und damit in die USA. Entsprechend zieht auch Borat fortan durch die Staaten, um den American Way of Life kennenzulernen. Er wird zum Country Star, begibt sich auf Jobsuche und versucht, ein Haus in einer Gated Community zu erwerben. Dabei strapaziert er die amerikanische Höflichkeit bis ihre äußersten Grenzen – das Konzept für den abendfüllenden Borat-Film steht schon mal. Tatsächlich finden sich Gags bzw. Themen aus den Ali G-Segmenten in abgewandelter Form in Kulturelle Lernung von Amerika, um Benefiz für glorreiche Nation von Kasachstan zu machen wieder.
So schnell wie sich der Erfolg einstellt, machen sich bei der Da Ali G Show Abnutzungserscheinungen bemerkbar, befeuert durch einen Kinofilm, der das satirische Potenzial der Figur verschenkt (hierzulande wird Ali G mit dem Komikerduo Erkan und Stefan verglichen, was auch der unterirdischen Synchronisation geschuldet ist). Zumal die Figur, so wie sie angelegt ist, an ihr Limit stößt. Ali G mag sich zwar mit seiner Street Credibility vom Establishment abgrenzen, bleibt aber ein Teil jenes Kulturkreises, den er persifliert. Ali G ist ein „Gangsta“, er repräsentiert eine Subkultur, die von Außenstehenden wahlweise als selbstparodistisch oder aber als leidlich gesellschaftsfähig im normativen Sinne wahrgenommen wird. Der Toleranzrahmen, den man „so einem“ zugesteht, ist knapp bemessen.
Schamlos, aber geschickt:
Das Erfolgsrezept von Borat
Borat hingegen darf hemmungslos Grenzen überschreiten, sich unter dem Deckmantel „Andere Länder, andere Sitten“ beinahe alles erlauben. Man stelle sich vor: In Zeiten, in denen die USA um die verlorene Anerkennung in der Welt ringen, schickt sich ein Ausländer an, die Werte einer großartigen Nation in sein eigenes „shithole country“ zu importieren. Welcher stolze Amerikaner würde sich nicht gebauchpinselt fühlen? Sacha Baron Cohen geht dabei – auch wenn die Gags an sich brachial ausfallen – sehr geschickt vor: Er stellt Gemeinsamkeiten her, wiegt seine Gesprächspartner in Sicherheit, was ihren Glauben an die eigene Überlegenheit betrifft, bevor er Situationen eskalieren lässt. Hinzu kommt Baron Cohens schauspielerisches Talent: Er trägt seine Schamlosigkeiten mit einer derart unverdächtigen Unschuldsmiene vor, dass es selbst den argwöhnischsten Hardlinern schwerfällt, einen Vorsatz zu vermuten.
Nach dem Ende der Da Ali G Show konkretisieren sich die Pläne für einen Borat-Film. Jay Roach, Filmemacher mit ausgewiesenem Händchen für Hit-Komödien (Austin Powers-Trilogie, Meine Braut, ihr Vater und ich) erklärt sich als Fan der Figur bereit, den Film zu produzieren. Für die Regie wird der Seinfeld-Autor und ehemalige Stand up-Comedian Larry Charles gewonnen. Sacha Baron Cohen schreibt am Drehbuch mit, um einen geeigneten Handlungsbogen für Borats „Reportage“-Fetzen zu entwickeln.
Der American Way of Life und der Traum von Pamela Anderson
Für den Film bekommt der Reporter einen hochoffiziellen Recherche-Auftrag an die Hand. Als Abgesandter der kasachischen Regierung soll er die Gebräuche der US-Amerikaner dokumentieren, um den Fortschritt der eigenen Nation zu fördern. Borat bricht, unter großem Jubel der Bewohner seines Heimatdorfes, zusammen mit dem Produzenten Azamat in die Staaten auf. Von New York aus begibt sich die Zwei-Mann-Crew auf einen wahnwitzigen Roadtrip, der von einem geheimen Wunsch des Protagonisten getragen wird. Denn Borat nimmt die Recherchereise zum Anlass, seiner Traumfrau zu begegnen: Pamela Anderson. Hauptattraktion sind und bleiben jedoch die Fragmente seiner „Dokumentation“.
Viele Interview-Situationen haben entlarvenden Charakter, dazu gehört der Besuch bei einer feinen Südstaaten-Gesellschaft, die er mit einer Begleitung – einer afroamerikanischen Prostituierten – aus der Fassung bringt. Legendär ist Borats Auftritt bei einer Rodeo-Veranstaltung. „We support your war of terror“, grüßt er als Botschafter Kasachstans ins Mikrofon, während die Besucher auf den Rängen frenetisch johlen. Andere Begegnungen zielen auf einen Tabubruch ab, etwa wenn Borat misogyne Ansichten vor einer Gruppe von Feministinnen vorträgt. Andere wiederum dienen dem reinen Amüsement oder treiben die Handlung voran. Nicht selten sind die Grenzen fließend. Wir als Zuschauer können uns nie sicher sein: Welche Szenen sind authentisch? Welche Begegnungen geskriptet? Abgesehen von Borat, Azamat, der Prostituierten Luenell und Pamela Anderson, die teilweise in die Handlung des Films eingeweiht ist, kommen die Episoden ohne echte Schauspieler aus.
Was ist echt? Was ist fake? Der Hit and Run-Stil von Borat
Die Verantwortlichen betonen, sämtliche involvierte Personen hätten Einverständniserklärungen unterschrieben. Allerdings ist den Beteiligten die wahre Natur des Films nicht bekannt. Sie wissen nicht, dass es sich um eine Hollywood-Produktion handelt, sondern gehen tatsächlich von einer kasachischen Dokumentation aus. Eine Täuschung, die einige Betroffene dazu veranlasst, Klagen gegen Sacha Baron Cohen, die Produzenten und/oder 20th Century Fox anzustrengen.
Beispielsweise fühlen sich die College-Studenten, die Borat per Anhalter in ihrem Wohnwagen mitnehmen und sich angetrunken zu politischen und chauvinistischen Äußerungen hinreißen lassen, diffamiert. Sie verlangen mitunter, dass die Aufnahmen von ihnen aus dem Film entfernt werden. Der Fahrlehrer, der Borat durch eine katastrophale Fahrstunde begleitet, meldet Schadensersatzforderungen in Höhe von 100.000 US-Dollar an. Die Szene bildet keine offizielle Prüfung ab, im Kontext des Films jedoch wird der Eindruck erweckt, Borat erwerbe in dieser Situation eine Art von Fahrerlaubnis. Angesichts der Vergehen, die sich Borat am Steuer erlaubt (inklusive eines Griffs zur Schnapsflasche), erscheint der Fahrlehrer ziemlich verantwortungslos. Beide Klagen werden fallengelassen. Ebenso die Anstrengungen zweier Passanten, die beiläufig im Film zu sehen sind, nichtsdestotrotz negative Folgen für ihr Privatleben beklagen.
Skandale und Klagen – die beste Publicity für Borats Film
Sacha Baron Cohen nimmt die vielen juristischen Bemühungen gegen ihn gelassen: “Some of the letters I get are quite unusual […] like the one where the lawyer informed me I’m about to be sued for $100,000 and at the end says, “P.S. Loved the movie. Can you sign a poster for my son Jeremy?'”, erklärt der Hauptdarsteller in einem Interview. Wer einen Film wie Borat dreht, der kalkuliert den Gegenwind ein. Die Dreharbeiten im Hit and Run-Stil bringen die Crew mehrfach in den Konflikt mit dem Gesetz. Es kommt zu Verhaftungen, ein Mal werden die Aufnahmen vom FBI beschattet, weil Zeugen von einem terroristischen Hintergrund ausgehen. Geschichten wie diese sind natürlich beste Publicity für den fertigen Film.
Das Hinwegsetzen über die Behörden und sein lakonischer Umgang mit Nachrichten über persönliche Folgen für die im Film Beteiligten bringen Baron Cohen allerdings auch den – nicht unberechtigten – Vorwurf ein, er betreibe Comedy auf dem Rücken anderer Leute. Eine Nachrichtenproduzentin, die Borats Besuch im News Channel WAPT eingefädelt hat, berichtet, ihr sei aufgrund des Vorfalls gekündigt worden. Ihr Arbeitgeber habe Zweifel an ihrer Eignung geäußert. Zwar habe sie versucht, die Echtheit der Anfrage zu prüfen, sei aber durch falsche Spuren der Filmproduzenten in die Irre geführt worden.
Verstehen Sie Spaß? Kid Rock offensichtlich nicht…
Pamela Anderson kostet die Mitwirkung an diesem Film die Ehe mit Kid Rock. Der Rockmusiker soll erbost über jene Szene gewesen sein, in der seine Gattin von Borat entführt wird. Der wähnt sich am Ende seiner Reise, als er seine Traumfrau am Rande einer Autogrammstunde trifft und kurzerhand einen „Hochzeitssack“ über sie stülpt. Damit die Sequenz halbwegs authentisch wirkt, ist der Baywatch-Star nur grob über den Ablauf informiert. Kid Rock soll unter dem Eindruck dieser Szene ausgerastet sein und seine Frau wüst beschimpft haben – es soll der Anfang vom Ende gewesen sein. In diesem Fall darf man Pamela Anderson wohl getrost gratulieren.
Mit Abschluss der Dreharbeiten liegen 400 Stunden Filmmaterial vor. Der fertige Film kommt auf eine Laufzeit von 84 Minuten. Die offizielle Premiere im September 2006 auf dem Filmfest in Toronto sorgt für Aufregung, weil Borat auf einem Pferdewagen vorfährt, an dem sich bäuerlich gekleidete Frauen abmühen. Die Vorstellung selbst ist nach 20 Minuten schon wieder vorüber: Der Projektor fällt aus. Ähnliche Auftritte folgen in anderen Ländern, stets werden die Filmstarts vom Kritik begleitet. Im Raum stehen Diskriminierungsvorwürfe in alle Richtungen, vor allem wird dem Film Antisemitismus und Antiziganismus unterstellt. In Deutschland reicht das Europäische Zentrum für Antiziganismusforschung sogar eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung ein.
Antisemitismus- und Antiziganismusvorwürfe
Zur Kunstfigur Borat gehört, dass sie ständig rassistische Vorurteile äußert. „If this car drives in any group of gypsies, will there be any damage to the car?“, fragt Borat einen Autoverkäufer. Der Makler antwortet ganz pragmatisch: „It depends how hard you hit them.“ Borats Kompagnon Azamat weigert sich, ein Flugzeug zu besteigen, weil er sich vor einer Wiederholung des 11. Septembers fürchtet – der Terroranschlag sei bekanntlich das Werk einer zionistischen Verschwörung gewesen.
Den Gipfel der Absurdität erreicht Borats Judenhass bereits zu Beginn des Films. In der Exposition sehen wir, wie Kasachstans renommiertester Journalist von der großen „jew hunt 2004“ berichtet. Dabei handelt es sich um ein Brauchtumsfest, das an die Stierhatz im spanischen Pamplona erinnert: Die Teilnehmer werden von jüdischen Karikaturen mit übergroßen Köpfen durch die Straßen gejagt. „Mrs. Jew“ hält für einen kurzen Moment inne, unter ihrem Kleid kommt ein Ei zum Vorschein. Angefeuert vom Publikum stürmen von links und rechts Kinder herbei, um das „Juden-Ei“ mit Faustschlägen und Tritten zu malträtieren.
TV-Reporter Borat hält den Hässlichen den Spiegel vor
Was Borat auffährt, ist natürlich kein echter Juden- oder Fremdenhass, sondern eine Groteske seiner hässlichen Ausprägungen. „Dadurch, dass er selbst antisemitisch auftritt, nimmt er Menschen ihre Hemmungen, ihre eigenen Vorurteile öffentlich zu machen, unabhängig davon, ob es sich dabei um eigenen Antisemitismus oder die Akzeptanz von fremdem Antisemitismus handelt“, erklärt der praktizierende Jude Baron Cohen die Funktionsweise seines fiktiven Reporters im Gespräch mit dem Rolling Stone Magazine. Dieser sind sich viele der Kritiker bewusst. Nur wie sieht’s mit dem Otto-Normal-Zuschauer aus?
Die eigentliche Gefahr liege in der fehlenden Einordnung dieser Szenen, unterstreichen die kritischen Stimmen. Auf die Feststellung eines taz-Interviewers, bei Borat handle es sich doch um eine „Witzfigur“, argumentiert der Urheber der Anzeige, Marko D. Knudsen: „Aber nicht jeder kennt ihn. Und wenn der Trailer mit der Jeep-Szene unkommentiert im deutschen Fernsehen läuft, weiß die Mehrheit der Bevölkerung nicht, was sie damit anzufangen hat. Was soll damit bewirkt werden? Dass der Begriff „Zigeuner“ wieder gesellschaftsfähig wird? Oder dass Gewalt gegen Roma bagatellisiert wird?“
Kontext und Cancel Culture: Freispruch für Borat?
Nun ist es ein Ding der Unmöglichkeit, den Kontext einer Äußerung, eines Zitats oder von Filmaufnahmen und Fotos zu jederzeit und für jeden ersichtlich aufrechtzuerhalten. So ziemlich jeder Schnipsel lässt sich aus dem Zusammenhang reißen, dazu muss man sich nur die uferlosen Netzdiskussionen in den Kommentarspalten ansehen. Und nicht jeder macht sich die Mühe zu unterscheiden: Was ist das Thema und was ist das Ziel einer Satire? Dies zeigt sich nicht zuletzt in den hochemotionalen Cancel Culture-Debatten, die sich am Umgang mit überholten Weltanschauungen in Kunst und Medien entbrennen (siehe auch folgendes Video).
Ist Borat aufgrund dieser schwierigen Umstände freizusprechen? Jein. Von einem Generalverdacht sicherlich. Im Einzelnen bietet der Film durchaus Angriffsflächen. Schauen wir uns den bereits skizzierten Besuch bei den Feministinnen noch einmal an. Borat konfrontiert die Damen mit fiktiven Ansichten des obersten kasachischen Staatswissenschaftlers, der festgestellt haben will, dass Frauen kleine Gehirne haben. In dieser Szene gibt es nichts unmittelbar zu entlarven, sein Auftritt ist reine Provokation. Eine der Frauen geht Borat direkt an: „Listen pussycat, smile a bit“. Dass er dieses Treffen nutzt, um den Feministinnen Informationen zu seinem „Objekt“ der Begierde – Sexsymbol Pamela Anderson – zu entlocken, ist zwar witzig, allerdings nur bezogen auf die Handlungsebene des Films.
Kasachstan is not amused:
Borat wird zum Politikum
Was als beleidigend empfunden wird, unterliegt häufig den eigenen Anschauungen und persönlichen Prägungen. Von daher könnten wir sämtliche Szenen in diesem 84-minütigen Feuerwerk untersuchen und kämen doch zu keinem einheitlichen Ergebnis. Nicht zuletzt spielt die eigene Betroffenheit eine wichtige Rolle – aber: Befindet man sich schon im Recht, nur weil man sich be- bzw. getroffen fühlt? Insofern ist ein Film wie Borat ein Test für jeden von uns. Sind wir noch in der Lage, den Diskurs zu führen? Oder gehen wir lieber gleich auf die Barrikaden?
Auf dem diplomatischen Parkett wird Borat zur einer delikaten Angelegenheit. Die kasachische Regierung versteht keinen Spaß, Präsident Nursultan Nasarbajew sieht sein Land in ein völlig falsches Licht gestellt – Kasachstan hat den durch den Zerfall der Sowjetunion erlittenen ökonomischen Kollaps überstanden und befindet sich auf dem Weg, stärkste Wirtschaftsmacht in Zentralasien zu sein. Nasarbajew – ihm zu Ehren wird die kasachische Hauptstadt Astana 2019 in Nur-Sultan umbenannt – beschwert sich sogar bei US-Präsident George W. Bush. Doch was soll der schon groß ausrichten? 2007 findet sich Sacha Baron Cohen im berühmten Times Magazine Ranking der 100 einflussreichsten Menschen des Jahres wieder, während das Staatsoberhaupt der USA mit Abwesenheit glänzt.
Der PR-Gau erweist sich im Nachhinein als Segen
Das kasachische Außenministerium lässt seine Kontakte spielen und platziert in US-Zeitungen eine großangelegte Anzeigen-Kampagne, um das vermeintlich angeschlagene Image aufzupolieren. Doch im Nachhinein erweist sich der Film, der weltweit über 260 Millionen US-Dollar einspielt, als Segen. Dank Borat taucht Kasachstan bei vielen Menschen zum ersten Mal auf der Landkarte auf. Der Außenminister vermeldet sechs Jahre nach Veröffentlichung des Films eine Verzehnfachung der ausgestellten Touristenvisa und spricht sogar einen offiziellen Dank an Sacha Baron Cohen aus.
Auf ähnlich positive Effekte hoffen die Menschen in Glod leider vergeblich. Das 1.500-Seelen-Örtchen im Herzen Rumäniens, hauptsächlich von Roma bewohnt, dient als Kulisse für Borats Heimatdorf. Es ist der Schauplatz einer reichlich derben Exposition. Kinder sammeln automatische Maschinengewehre, Pferde ziehen schrottreife Autos. Im Ort wohnen ein Dorfvergewaltiger und Kasachstans viertbeste Prostituierte, die gleichzeitig Borats Schwester ist. Auch in diesen Szenen sind es keine echten Schauspieler, die zum Einsatz kommen. Es sind die wahren Einwohner von Glod, die als Statisten fungieren. Es ist das schwerste Vergehen, das der Film begeht: Dass er eine ohnehin schon abgehängte Gemeinschaft der Lächerlichkeit preisgibt.
Ein Dorf lacht nicht:
Borat vs. die Bewohner von Glod
Einwohner beklagen, sie seien mit 15 Lei, umgerechnet 5 Euro, pro Drehtag abgespeist worden. Andere beteuern, sie hätten überhaupt kein Geld gesehen. Dem hält das Studio entgegen, dass man mit genanntem Tarif das Doppelte des üblichen Lohns bezahlt habe. Insgesamt 10.000 US-Dollar seien als Spende an die Stadt gegangen. Zudem habe man Computer, Möbel und Unterrichtsmaterialien für die örtliche Schule gekauft. Davon wollen die Bewohner von Glod jedoch nichts wissen. Noch 2006 streben sie eine Klage gegen die Produktionsfirma in Höhe von 30 Millionen Dollar an, das Mandat übernehmen die Staranwälte Michael Witti und Ed Fagan. Doch auch dieser juristische Vorstoß zielt ins Leere. Wer zu diesem Streit mehr wissen will: Die Dokumentation Borat – Ein Dorf lacht nicht schildert der niederländische Filmemacher Mercedes Stalenhoef das Ausmaß der Geschichte.
Borat ist und bleibt ein Phänomen, eine Kultfigur, an der sich die Geister scheiden. Ein moderner Til Eulenspiegel, der in seinen genialen Momenten die Doppelmoral seiner Umwelt entblößt und Missstände aufdeckt, aber auch immer wieder in plumpe Provokation ohne jedweden pädagogischen Wert verfällt. Apropos „Missstände aufdecken“: Eine Frage haben wir noch nicht verhandelt. Wie verhält es sich mit der journalistischen Dimension von Borat? Wobei wir uns bei der Beantwortung auf die Funktions- und Herangehensweise seiner Figur beziehen wollen, nicht auf sein Wirken als fiktiver TV-Reporter. Erfüllt er mit seinem Mockumentary-Ansatz journalistische Aufgaben? Ähnelt sein Konzept nicht dem von Günter Wallraff, der in den 1970er-Jahren als Journalist Hans Esser die BILD-Zeitung infiltrierte und später, Anfang der 1980er-Jahre, als Türke Levent Sigirlioğlu die Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte in deutschen Unternehmen offenlegte?
Die journalistische Dimension
der Kunstfigur Borat
Borat mag zwar die wahre Geisteshaltung mancher Mitmenschen aufdecken und damit auf gesellschaftliche Grundprobleme verweisen. Allerdings tut er das im „Vorbeigehen“. Borat ist primär Unterhaltung, eine gute Improvisation. Zu einer journalistischen Arbeitsweise fehlt ihm eine ganze Menge – etwa eine klare Fragestellung, derer er nachgehen will, der einordnender Charakter, die Transparenz seiner Methoden. Gerade in letztgenannter Hinsicht arbeitet Borat zutiefst unjournalistisch: Die Reaktionen der Menschen mögen zwar echt sein, werden aber unter Anwendung manipulativer Techniken und der Vortäuschung falscher Tatsachen hervorgerufen.
Wenn wir schon den ehrwürdigen Investigativjournalisten für einen schiefen Vergleich ins Spiel gebracht haben, wollen wir ihn noch ein letztes Mal anführen: Auch Wallraff hat seine wahren Motive verschleiert. Aber im Gegensatz zu Borat / Sacha Baron Cohen war er darauf bedacht, seine Umgebung nicht aktiv zu beeinflussen, er wollte erfahren, was andere erleben – im Sinne einer verdeckten Recherche.
Borat – ein moderner Eulenspiegel?
Um Borats Hit and Run-Stil selbst mit zwei zugedrückten Augen als verdeckte Recherche zu kennzeichnen, fehlt ihm die Relevanz. Es mag ein öffentliches Interesse bestehen, zu erfahren, wie die amerikanische Volksseele tickt. Zu sehen, wie Borat ahnungslose Individuen auf Kreuz legt, mag hingegen ein öffentliches Bedürfnis befriedigen, aber ganz sicher kein berechtigtes Interesse darstellen.
Zu guter Letzt: Nie können wir uns sicher sein, was halbwegs authentisch ist und welche Begegnungen nach Drehbuch verlaufen. Stattdessen müssen wir annehmen, dass die Auswahl des Materials höchst selektiv ist. Sacha Baron Cohen geht es nicht darum, ein ausgewogenes Bild zu zeichnen. Sondern darum, die Bipolarität der USA in ihren Extremen festzuhalten – und dabei selbst zu polarisieren. Mit Borat – Kulturelle Lernung von Amerika, um Benefiz für glorreiche Nation von Kasachstan zu machen ist ihm das ganz hervorragend gelungen. Ob hinter seinem Anschluss-Moviefilm auch ein „Great Success!“ steht?
—
Lust, diesen Film zu erwerben? Hier geht’s zu Amazon!
COMMENTS
Als Borat damals im Kino kam, fand ich den Film lustig.
Aber seither habe ich selbst in Osteuropa gelebt und die westliche Überheblichkeit gegenüber diesen angeblich rückständigen Ländern erlebt. Die Szenen wie aus dem rumänischen Dorf sind Nahrung für solche Vorurteile.
Wenn ich es jetzt nochmal sehe, finde ich es nicht mehr lustig.
Ich war also gespannt, wie der neue Borat-Film dies angehen würde, ob er sich seiner Verantwortung bewusst ist, ob er intelligenter ist.
Leider nein. Wieder beginnt es in einem stereotypischen Dorf, wieder gibt es derben Pennälerhumor, meist auf Kosten von Frauen und “Zigeunern”.
Ich habe nach 15 Minuten abgebrochen. Mittlerweile bin ich älter, und solche Filme sind mir zu doof.
Und bei den angeblich spontanen Szenen aus den USA merkt man, dass mindestens ein Kameramann mit im Raum sein muss. Dass Leute in solchen Situationen absoluten Dummheiten auf den Leim gehen, das kann ich schwer glauben. Und wenn, dann hätten sie doch die Szenen dringelassen, wo erklärt wird, warum/wofür jemand filmt.
Hallo Andreas,
Danke Dir für deinen Kommentar. Mit gesetzterem Alter schaue ich da auch differenzierter hin. Und ja auch gut so 😉
Ich mag den ersten Film sehr, aber genau diese Szene in dem rumänischen Dorf kann ich mit dem Wissen um die Entstehung kann ich sie nicht mehr genießen. Hat mich sehr zum Nachdenken gebracht.
Ich finde auch, dass der Mockumentary-Ansatz in Borat 2 kaum funktioniert (gegen Ende in ein, zwei Szenen): Es gibt ja keinen “Berichtsanlass” mehr, der erklären würde, warum da jemand mit der Kamera hantiert. Und wenn Borat und Tochter Tutar in einer vermeintlich spontanen Situation aus drei, vier Kamerawinkeln beobachtet werden, tritt genau das ein, was Du beschreibst.
Stichwort Verantwortung: Ich denke doch, dass Borat/Sacha Baron Cohen gereift ist. Das stereotype Dorf ist jetzt klar von Schauspielern besetzt. Und Witze sind immer noch derbe – aber es gibt viele Momente der Versöhnung (Female Empowerment, Verabschiedung vom Antisemitismus in Borats Heimat). In der Hinsicht ist Borat 2 ziemlich 2020.
Viele Grüße, Patrick