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Die Presse als Wanderheuschrecke: Intolerance (Japan, 2021)

In Intolerance verunglückt eine Schülerin tödlich. Der Unfall stürzt ihr Umfeld in eine tiefe Krise. Daran tragen die Medien einen Anteil.

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In Intolerance verunglückt eine Schülerin tödlich. Der Unfall stürzt ihr Umfeld in eine tiefe Krise. Daran tragen die Medien einen Anteil.

Text: Patrick Torma. Bildmaterial: Star Sands.

Irgendwo in einer japanischen Kleinstadt: Supermarktbesitzer Naoto (Tori Matsuzaka, The Journalist) ertappt die eigenbrötlerische Schülerin Kanon (Aoi Ito) dabei, wie sie sich am Kosmetik-Regal zu schaffen macht. Er zerrt sie ins Hinterbüro, kurz darauf stürmt das Mädchen aus dem Laden. Naoto nimmt die Verfolgung auf, doch sie endet jäh: Kanon verunglückt im Straßenverkehr tödlich. Der Ort steht unter Schockstarre, für Kanons Familie bricht eine Welt zusammen. Vater Mitsuru (Arata Furuta) weiß sich nicht anders zu helfen, als seine Trauer in der Wut auf Naoto zu kanalisieren. Angestachelt von der medialen „Anteilnahme“ beginnt er eine Fehde mit dem nicht minder traumatisierten Marktleiter …

Wo das Schicksal zuschlägt, ist die Frage nach dem „Warum“ nicht weit. Es ist das natürliche Bedürfnis der Menschen, das Unbegreifliche verstehen zu wollen. Medien zahlen mit ihrer Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen auf dieses Bedürfnis ein. Das Ausmaß ist noch nicht erfasst, da geistern die Erklärungsversuche durch die Presse. „Wie konnte es so weit kommen?“, „Hätte sich das Unglück verhindern lassen?“, „Wer hat Schuld?“ – reflexartig wird der immer selbe Fragenkatalog abgespult.

Wenn Berichterstattung Grenzen überschreitet

Nur: Viele Antworten brauchen Zeit. Und der Geduldsfaden der Öffentlichkeit ist kurz. Wir wollen diese Antworten sofort, denn irgendwo auf der Welt macht sich das Schicksal bereit, erneut zuzuschlagen. „Sie haben sich schon wieder ein neues Ziel ausgeguckt“, hält ein resignierter Mitsuru am Ende von Intolerance fest. Die Presse, die seine Heimatstadt zwischenzeitlich regelrecht belagerte, hat das Interesse längst verloren und ist wie ein Schwarm hungriger Wanderheuschrecken weitergezogen. Mitsurus Heilungsprozess setzt gerade erst ein. Das mediale Dauerfeuer ließ ihn vorher nicht zur Ruhe kommen.

„Die Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen findet ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen. Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden“, besagt Richtlinie 11.3 im Pressekodex des Deutschen Presserats. Was passieren kann, wenn diese Grenze überschritten wird, exerziert der japanische Spielfilm am Beispiel einer fiktiven Tragödie vor: Die Medien in Intolerance behindern nicht nur die Trauerbewältigung, sie stürzen die betroffenen Menschen noch tiefer in die Krise.

Schülerin Kanon wirkt geistig abwesend, was allerdings niemand so richtig bemerkt. Ihr Tod ruft viele Fragen hervor
Schülerin Kanon wirkt geistig abwesend, was allerdings niemand so richtig bemerkt. Ihr Tod ruft viele Fragen hervor

Eine persönliche Fehde wird zum TV-Ereignis

Kanons Familie, aber auch Naoto, werden auf Schritt und Tritt von Kameras und Mikrofonen begleitet. Noch auf der Trauerfeier kommt es zum Eklat. Naoto, der sein Beileid bekunden möchte, wird von Mitsuru angegangen. Menschlich nachvollziehbar macht er den Supermarkt-Chef für den Unfall seiner Tochter verantwortlich. Eine Steilvorlage für die anwesenden Medien: „Was für ein Mann treibt eine junge Frau in den Tod?“, fragen sie – und lassen anonymisierte Quellen zu Wort kommen. Die Reporter*innen campieren fortan vor seinem Laden, um jede noch so kleine Regung einzufangen, die in Tribunal artigen Talkshows „analysiert“ wird.

Unter dem (Ein-)Druck der öffentlichen Stimmung geht Mitsuru weiter auf Naoto los. Er will nicht wahrhaben, dass ein Nagellack-Diebstahl den Anstoß für dieses Unglück gegeben haben soll. Da muss noch mehr sein. Gerüchte machen die Runde, Naoto habe pädophile Neigungen und diese an Kanon ausgelassen – Intolerance lässt diesen Verdacht im Raum stehen. Weder die Sicherheitskameras im Laden – diese waren an diesem folgenschweren Tage ausgeschaltet – noch das filmische Auge geben Aufschluss. Was hinter den Kulissen passiert ist, entzieht sich unserer Kenntnis, wir wissen nicht, was Kanon veranlasst hat, so vehement zu fliehen.

Intolerance bietet uns keine Gewissheit

Über diese Leerstelle werden wir in die Fehde hineingezogen. Lenkt Mitsuru vom eigenen Versagen ab, weil er sich nicht eingestehen möchte, dass er blind für die Probleme seiner Tochter war? Macht er den Supermarktbetreiber in seiner Hilflosigkeit zum Sündenbock? Oder verbirgt der verdächtig defensiv agierende Naoto doch mehr als er zugibt? Mit zunehmender Spieldauer drängen auch wir auf Antworten. Von der Sensationspresse jedoch, so viel wird klar, dürfen wir keine erwarten.

Die Reporter*innen in Intolerance sind nur darauf aus, persönliches Leid auszuschlachten. Als Medien-Laien sind die Betroffenen Marionetten in einem unrühmlichen Schauspiel – egal, was sie tun, sie werden in vorbestimmtes Licht gerückt. Reagieren sie auf die Kameras, wird jeder emotionale Ausbruch aufgebauscht. Verweigern sie die Stellungnahme, ist das ein Freibrief für Spekulationen. Am Ende ist niemandem geholfen: Existenzen und Gewissheiten liegen in Scherben.

Supermarktleiter Naoto verzweifelt zusehends am Druck, der vor allem über die Medien erzeugt wird.
Supermarktleiter Naoto verzweifelt zusehends am Druck, der vor allem über die Medien erzeugt wird.

Keine Aufarbeitung, keine Katharsis

Abgründe und Beißreflexe der Sensations- und Skandalberichterstattung sind im Kino alles andere als unterbelichtet. Es gibt eine ganze Reihe von Filmen, die davon handeln, wie schnell Menschen medial unter die Räder geraten. Beispiele sind etwa Mad City, Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Gone Girl. Doch während viele medienkritische Beiträge dazu neigen, die Presse ins Dämonische zu übersteigern oder einzelne, besonders fiese Antagonisten zu etablieren, zeichnet sich Intolerance durch eine lakonische Inszenierung aus. Die Medien in Intolerance sind eine gesichtslose Masse, die Grenzüberschreitungen sind zahlreich wie massiv, für sich genommen aber wenig überraschend oder plakativ. Nichts, was man im Zuge echter Berichterstattungen nicht schon mal gesehen oder erlebt hätte.

Das unschöne Bild von der Presse, das Intolerance skizziert, wirkt unerträglich vertraut – und das macht die Medienkritik besonders effektiv. Hinzu kommt: Der Film versagt uns in dieser Beziehung jegliche Katharsis. Skrupellose Journalist*innen werden weder sanktioniert (in Die verlorene Ehre der Katharina Blum wird der Skandal-Reporter Werner Tötges beispielsweise erschossen) noch mit einer Läuterung bedacht (wie etwa Dustin Hoffman alias Max Brackett in Mad City, der sich seiner journalistischen Schandtaten bewusst wird). Auf keinerlei Ebene findet auch nur ein Anflug von Aufarbeitung statt: Die Meute kommt mit ihrer ehrabschneidenden Berichterstattung einfach davon und macht schließlich an anderer Stelle genauso weiter.

Intolerance ist kein reiner Medienfilm

Die Methode hat System. Ändern können sich nur die Einzelnen – das ist die eigentliche Botschaft des Films. Obwohl die Medien eine zentrale, weil verstärkende Rolle spielen, ist Intolerance kein Film über das (Nicht-)Funktionieren der Medien. Es geht um so viel mehr: Um Schuld und Sühne, um Verdrängung und Tabuisierung von Problemen in familiären, beruflichen und schulischen Kontexten, um verkrustete, patriarchalische Prinzipien in der japanischen Gesellschaft, die bestrebt ist, jederzeit ihr Gesicht zu wahren. Indem Intolerance eine Vielzahl von Themen adressiert, macht er es sich nicht leicht, Antworten zu finden. Ein Film wider die menschlichen Bedürfnisse. Und doch ein zutiefst menschlicher Film.

Stark gespieltes und nuancenreiches Drama aus Japan: Intolerance war auf dem diesjährigen Nippon Connection Filmfestival zu sehen. Ich bedanke mich herzlich beim Festivalteam, das mir den Film für eine Besprechung auf journalistenfilme.de zugänglich gemacht hat.

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