Eines der folgenreichsten Verbrechen der Nachkriegsgeschichte: das Geiseldrama von Gladbeck steht für den Sündenfall der deutschen Medien.
Eines der folgenreichsten Verbrechen der Nachkriegsgeschichte: das Geiseldrama von Gladbeck steht für den Sündenfall der deutschen Medien.
Es ist das folgenreichste Verbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte: das Geiseldrama von Gladbeck. Polizei und Behörden der „betroffenen“ Länder leisten sich nach dem beobachtungsfreien Abzug der Gangster eine Serie von Fehleinschätzungen und Versäumnissen, die derart beispiellos ist, dass die Einsatzkoordination anschließend völlig umgekrempelt wird. Vor allem steht Gladbeck synonym für den Sündenfall der bundesdeutschen Medien. Sie verzerrten diese 54 Stunden im August 1988 nicht nur zu einem absurden Spektakel, sondern griffen aktiv ins Geschehen ein – und beeinflussten so den tragischen Ausgang der Geiselnahme. Der TV-Zweiteiler Gladbeck dokumentiert, was nie hätte geschehen dürfen.
Text: Patrick Torma. Bildmaterial: ARD Degeto/Ziegler Film/Martin Valentin Menke
Das Drama beginnt in einer kleinen Ruhrgebietsstadt
Es beginnt mit dem Überfall einer Deutschen Bank-Filiale in einem unscheinbaren Ort im Ruhrgebiet. Gladbeck ist das, was man eine typische Bergarbeiterstadt nennt. Groß geworden durch Kohle, mit dem Versiegen der Zechen aber auch ganz schön die Krise geschlittert. 1975 droht sogar das Ende der Stadt. Im Schatten der großen Ruhrmetropolen hat es der Strukturwandel noch schwerer. Nicht, dass er Gladbeck überhaupt nicht geküsst hätte. Doch noch immer ist hier der Ruhrpott, wie sich ihn Auswärtige häufig ausmalen, greifbar. Ohne es despektierlich zu meinen: Es kommt nicht von ungefähr, dass eine Stadt wie Gladbeck zuallererst mit einem Kriminalfall in Verbindung gebracht wird, der sich zu drei Vierteln woanders abspielte.
Am Morgen des 16. August dringen die Berufsverbrecher Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, beide Anfang 30, in die schlecht einsehbare Bankfiliale des Geschäftszentrums in Gladbeck-Rentfort ein und fordern von den beiden anwesenden Angestellten die Herausgabe der Geldbestände. Sie erbeuten 120.000 DM, werden jedoch von früh eintreffenden Einsatzwagen der Polizei überrascht. Ein Arzt, der seine Praxis in dem Gebäudekomplex betreibt, hatte die Bankräuber beobachtet und den Notruf alarmiert. Rösner und Degowski ziehen sich in die Bank zurück und verschanzen sich mit den Bankmitarbeitern.
Gladbeck: Zaudern gehört zur Taktik
Die Verhandlungsgruppe nimmt Kontakt zu den Geiselnehmern auf, die zusätzliches Geld, Handschellen und einen Fluchtwagen aufrufen. Ein Zugriff durch Sondereinsatzkräfte kommt aufgrund der unübersichtlichen Lage nicht infrage. Dazu muss man wissen: In der Nachkriegsrepulik sind vergleichbare Szenarien oftmals glimpflich ausgegangen, auch weil sich der sogenannte beobachtungsfreie Abzug als Patentrezept für die Auflösung von Geiselnahmen bewährt hat.
Die Kidnapper, so die Idee, sollen sich in Sicherheit wähnen und die Geiseln von sich aus freilassen. Schließlich fällt das Untertauchen mit zusätzlichen Personen im Schlepptau schwer. Hinzu kommt: Zwar verfügt Deutschland nach der misslungenen Befreiung israelischer Sportler im Zuge des Münchener Olympia-Attentats über ausgebildete Spezialeinheiten. Dennoch scheuen sich deutsche Behörden, derartige Situationen gewaltsam zu lösen. Kaum jemand möchte im Nachkriegsdeutschland die Verantwortung für einen Schießbefehl übernehmen.
Medienspektakel von der ersten Minute an
Kurz: Die Polizei ist mangelhaft auf einen Ernstfall vorbereitet, der sich viel zu schnell zuspitzt. Zwei weitere Faktoren begünstigen den Kontrollverlust zusätzlich. Erstens sind Rösner und Degowski zu unberechenbar, als dass sie mithilfe des Standardprotokolls zu besänftigen wären. Zweitens mutiert das Geiseldrama gleich in seinen ersten Minuten zu einem Medienspektakel. Die Journalistenschar ist bereits vor Ort, als die Spezialkräfte Stellung beziehen.
Kein Schritt, keine Entwicklung bleibt unbeachtet. Das bekommen auch die Gangster im Inneren der Filiale mit. Nicht zuletzt, weil RTL-Reporter Hans Meiser (jener Hans Meiser, den die etwas Jüngeren unter uns eher als Krawall-Talker und Notruf-Moderator kennen) einfach in der Bank durchbimmelt und ein erstes, 14-sekündiges Interview mit Hans-Jürgen Rösner führt. „Hätte ich vorher gewusst, dass der Verbrecher da rangeht, hätte ich nicht angerufen“, erklärte Hans Meiser in einem Interview mit dem Spiegel rückblickend. „Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Einerseits denke ich: Ein schlechter Journalist ist, wer nicht auf die Idee kommt, sowas zu machen. Aber ein schlechter Journalist ist auch, wer sowas nachher tatsächlich sendet – zumal nichts Interessantes gesagt wurde.“
Entlang hangeln an Originalaufnahmen
Meisers Vorpreschen am Morgen des 16. August ist der erste journalistische Fehltritt, der einer noch nie dagewesenen Welle medialer Grenzüberschreitungen voransteht. Allein diese kurze Szene zu Beginn wirkt surreal. Das, was uns Gladbeck in dieser Hinsicht noch bieten wird, lässt einen geradezu fassungslos zurück. Der Zweiteiler zeichnet die einschneidenden Ereignisse dieser drei Tage im August 1988 nach. Die Betonung liegt wohlgemerkt auf nach-, nicht auf überzeichnen. Wer es nicht wahrhaben will, der vergleiche die Filmszenen mit den Originalaufnahmen, die aufgrund mangelnder medialer Zurückhaltung im Überfluss vorliegen. Regisseur Killian Riedhof hat diese in Bezug auf Einstellungen, Dramaturgie und Dialoge nahezu 1-zu-1 umgesetzt.
Teil 1 konzentriert sich auf die Vorgänge in Gladbeck und baut damit die Spannung auf, die sich im zweiten Teil in einem Exzess polizeilicher Versäumnisse und medialer Schandtaten entlädt. Alles, was in den ersten 60 Minuten schiefläuft, sorgt zwar für Kopfschütteln – lässt sich aber irgendwie noch nachvollziehen. Das Zaudern der Polizei, der beobachtungsfreie Abzug (der nicht gänzlich unbeobachtet gewährt wird, wenn auch etwas glücklich verläuft, weil die Gangster während eines Zwischenstopps in eine Falle tappen und ihr ursprüngliches Fluchtfahrzeug gegen einen präparierten Wagen eintauschen), die Neugier der Presse, die ein Informationsbedürfnis zu stillen hat. Doch mit dem Beginn der Irrfahrt über die deutschen Autobahnen gerät die Situation völlig außer Kontrolle.
Von Gladbeck nach Bremen
Ländergrenzen werden überschritten, damit wechseln Zuständigkeiten. Es gibt keine übergeordnete Einsatzplanung. Die Kommunikation zwischen den Behörden tröpfelt, wichtige Informationen versanden. Nur so ist es – zumindest im Ansatz – zu erklären, warum die Polizei in Bremen die Gelegenheit verstreichen lässt, die Gladbecker Geiseln zu befreien, obwohl Hans-Jürgen Rösner mehrere hundert Meter vom Wagen entfernt mit seiner zwischenzeitlich aufgegabelten Lebensgefährtin Marion Löblich in einer Boutique shoppt und Dieter Degowski sich an einer Mauer erleichtert. Am Ende des Tages (und des ersten Teils) bringen die Verbrecher einen vollbesetzten Linienbus in ihre Gewalt.
Die Bremer Einsatzzentrale hat es nicht fertiggebracht, einen Busbahnhof im Ortsteil Huckelriede abzusperren. Schaulustige und die Presse bevölkern den Tatort – das telemediale Theater nimmt seinen Lauf. Die Kidnapper nutzen die Gelegenheit zur Selbstinszenierung, die ihnen die anwesenden Reporter nur allzu bereit bieten. Fotografen besteigen den Bus und lichten die verängstigten Geiseln ab. Hans-Jürgen Rösner gibt sein berüchtigtes Interview, in dessen Verlauf er sich seine Waffe in Mund schiebt, um der Welt zu demonstrieren, wie ernst er es meint.
Eine Republik hält den Atem an
Die Szenen werden von der Tagesschau gesendet – das Geiseldrama ist mittlerweile ein Straßenfeger, Deutschland sitzt vor dem Fernseher. Der Film zeigt die Großeltern der 18-jährigen Silke Bischoff, die noch nicht ahnen, dass ihre Enkelin traurige Berühmtheit erlangen wird. Am Vorabend noch hatte der Großvater die Berichterstattung entnervt weggeschaltet. Jetzt ist es zwar immer noch „makaber“, geschaut wird aber dennoch. Als die Großeltern ihre Enkelin Silke im TV-Gerät erblicken, sind sie natürlich befangen. Aber so geht es der Allgemeinheit. Jetzt, wo sie die Gesichter der Entführten kennt, ist sie in Gänze betroffen.
In der Hitze fallen die Zurückhaltung und Achtung wie Hüllen im Freibad. Die Reporter in Bremen sehen sich längst nicht mehr als neutrale Berichterstatter, sie treiben den Kriminalfall aktiv voran. Rösner hat sich Peter Meyer als Verbindungsmann ausgeguckt, der Pressefotograf vermittelt in den Verhandlungen. Ein Unding. Aber im Eifer einfach so passiert. Die Verhandlungsgruppe der Bremer Einsatzleitung bringt es nicht fertig, Funkkontakt zum Bus herzustellen; die Geiselnehmer wollen nur von Angesicht zu Angesicht verhandeln. Peter Meyer soll den Gangstern im Auftrag der Polizei ein Funktelefon reichen, damit die Gespräche endlich aufgenommen werden können. Als er die Nummer der Unterhändler wählt, nimmt keiner ab. Dummdreist oder mutig von Peter Meyer?
Ambivalente Presse in Bremen
Gerade in Bremen präsentiert sich die Presse von ihrer ambivalenten Seite. Einerseits behindern Journalisten die Polizeiarbeit. Andererseits ist die Polizei in Bremen nicht in der Lage, die Koordination in die Hand zu nehmen. Das Einsatzzentrum atmet auf, als der Linienbus die Grenzen des kleinsten Bundeslandes überquert. Peter Meyer verfolgen die Bilder auch dreißig Jahre später noch. Ob er etwas falsch gemacht habe? Eine seriöse Antwort auf diese Frage hat er bis heute nicht gefunden. In der Doku Das Geiseldrama von Gladbeck – Danach war alles anders lässt Meyer durchblicken, dass er glaubt, deeskalierend auf Rösner und Degowski eingewirkt zu haben. Durch das Ausbleiben von Verhandlungen hätten sich die Geiselnehmer nicht ernst genommen gefühlt.
Tatsächlich sind es Journalisten, die gleich zweimal die Freilassung von Geiseln, darunter die inzwischen völlig entkräfteten Bankangestellten, erwirken. Als Degowski wenig später Emanuele Di Giorgi in den Kopf schießt, sind es abermals Reporter, die den schwer verletzten 14-Jährigen aus dem Bus ziehen und aussichtslos erstversorgen. Allerdings, und da ist die unübersehbare Kehrseite wieder, nicht ohne den sterbenden Jungen fotografisch „in Szene“ zu setzen. Auf dem Rastplatz Grundbergsee entsteht auch das berühmte Bild von Silke Bischoff, die von Dieter Degowski mit einer Waffe bedroht wird. Es fällt die absurde Reporterfrage: „Wie geht es Ihnen mit der Pistole am Hals?“ Der Klassiker, wie er in der Medienkritik häufig vorkommt: der Reporter, der sich wie ein Aasgeier auf Trauernde oder Verletzte stürzt (etwa in Mad City oder Cronicas). Hier ist es traurige Realsatire live.
Presseauflauf in der Kölner Innenstadt
Keine zwei Meinungen gibt es über das „Grande Finale“ in der Kölner Innenstadt am 18. August. Während Rösner, Degowski und Löblich – den Bus haben sie nach der Rastplatz-Episode in den Niederlanden aufgegeben – gemeinsam mit den verbliebenen Geiseln Silke Bischoff und Ines V. ihren PKW ausgerechnet vor der Redaktion des Express parken, werden sie von Journalisten entdeckt und belagert. Bald schon hat sich eine ganz Traube um das Fahrzeug gebildet. Es kommt zu einer „ungewöhnlichen Pressekonferenz mit extrem surrealen Züge“ (O-Ton Frank Plasberg), Reporter halten ihre Mikrofone ins stickige Gefährt.
Die Polizei in der Domstadt bereitet einen Zugriff in Zivil vor. Dem SEK-Beamten Rainer Kestling gelingt es sogar, sich bis zu Rösner an der Fahrerseite durchzukämpfen und den Arm um ihn zu legen, derweil nehmen Beamte am hinteren Teil des Wagens Degoswki, der unentwegt seine Pistole an den Kopf Silke Bischoffs hält, für einen finalen Rettungsschuss ins Visier. Doch auch hier schrecken die Beamten vor der letzten Konsequenz zurück. Der Film begründet das vor allem mit der Sicherheit der Geiseln, tatsächlich hatte die Einsatzleitung mit Kestling eine waffenlose Annäherung an das Fahrzeug vereinbart, der nun ein Disziplinarverfahren fürchtet.
Journalisten schreiben das Drama fort
Die anwesende Pressemeute schreibt parallel an einer Fortsetzung des Dramas. Ein Fotograf macht lautstark auf die Anwesenheit ziviler Beamte aufmerksam. Noch mal: Wer glaubt, Gladbeck arbeite mit Zuspitzungen und nähme sich künstlerische Freiheiten, um das Verhalten der Journalisten besonders zu tadeln, der findet hierzu entsprechende Belege durch Zeitzeugen. Einzelne Reporter zeigen Rösner und Degowski Bilder von Polizisten, damit ihnen ja keine „falsche“ Geiseln untergejubelt werden.
Udo Röbel, damals stellvertretender Chefredakteur des Express, beschreibt die Szenerie wie folgt: „[Es] ging […] nur darum, den besten Platz zu ergattern und zu verteidigen.“ Röbel sichert sich den “exklusivsten” Platz: Nachdem er mit dafür Sorge trägt, dass die Geiselnehmer ihre Fahrt fortsetzen können, setzt er sich in den Wagen und lotst sie auf die A 3. An der Raststätte Siegburg verlässt er das Fluchtauto wieder – wenige Minuten später, kurz bevor die Verbrecher die Landesgrenze zur Rheinland-Pfalz überqueren, wird es von Beamten in einem gepanzerten Einsatzfahrzeug gerammt.
Deutschland unter Schock
Mit einem letzten und heftigen Schusswechsel ertönt der Schlussakkord des Geiseldramas. Ines V. springt rechtzeitig aus dem Wagen – Silke Bischoff wird von einer Kugel aus der Waffe Rösners getötet. Dass sie die Geiselnahme hätte überleben können, steht angesichts der Unterlassungen der vergangenen Stunden außer Frage…
Deutschland steht für einen Moment unter Schock. Schnell werden jedoch Empörung und Fragen nach der Verantwortung für dieses Desaster laut. Die drei großen Ps – Polizei, Politik und Presse – , waren überfordert. Für alle drei Institutionen haben diese drei Tage im August Folgen (wenn auch das politische Beben vergleichsweise schwach ausfällt, so widersteht NRW-Innenminister Schnoor etwa den Rücktrittsforderungen, während der Bremer Innensenator Meyer sein Büro räumt). Noch im selben Jahr erweitert der Presserat seinen Kodex: Journalisten hätten Geiselnehmer keine Plattform zu bieten, auch die eigenmächtige Vermittlung zwischen Kidnappern und Polizei gehöre nicht zu den Aufgaben der Presse.
Das Erbe von Gladbeck
Die Lehren von Gladbeck sind überdeutlich, der gleichnamige Zeweiteiler als eindringliches Mahnmal ruft sie schmerzhaft in Erinnerung. Einige Bekannte in meinem Kollegenkreis, die damals bereits journalistisch tätig oder auf dem besten Wege dorthin waren, hat der TV-Film durchaus mitgenommen. Ähnliches liest man aus dem Tenor der Kritiken heraus. Ob deshalb schließen kann, dass ein zweites Gladbeck heute undenkbar wäre?
Zumindest ist es schwer vorstellbar, dass Journalisten nochmal derart ungehindert walten können. Grenzüberschreitungen in der Berichterstattung, wie etwa zur Germanwings-Katastrophe im März 2015 oder zum Anschlag in München 2016, zeugen jedoch davon, dass die Gier nach Sensationen ungebrochen, in Zeiten kurzer Aufmerksamkeitsspannen ja vielleicht noch stärker geworden ist. Es wird immer einen Journalisten geben, der weitergeht als seine Kollegen – sei es, weil er eine Exklusiv-Story wittert und dafür ethische Werte über Bord wirft oder einfach im Eifer des Gefechts nicht mehr in der Lage ist, schützenswerte Interessen abzuwägen (auch das soll es geben, Reporter sind auch nur Menschen). Dann liegt es in der Verantwortung der Redaktionen, darüber zu entscheiden, ob das entsprechende Material gesendet wird. Ob sich Gladbeck tatsächlich nicht wiederholt.
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Der Zwei-Teiler Gladbeck ist auf DVD erschienen, hier geht’s zu Amazon*. Es kann aber nicht schaden, die Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen im Auge zu behalten. Die haben den Film mitproduziert.
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