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Einzelkämpfer gegen Einzeltäter: Ulrich Chaussy in Der blinde Fleck (2013)

2020 jährt sich das Oktoberfest-Attentat zum 40. Mal. Lange war der verheerendste Anschlag auf bundesdeutschem Boden ein vergessener.

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2020 jährt sich das Oktoberfest-Attentat zum 40. Mal. Lange war der verheerendste Anschlag auf bundesdeutschem Boden ein vergessener.

Der blinde Fleck holt dieses Ereignis im Jahr 2013 nicht nur zurück in die kollektive Erinnerung. Basierend auf den Recherchen des Journalisten Ulrich Chaussy, der sich über Jahrzehnte hinweg nie mit den offiziellen Ermittlungsergebnissen zufriedengab, liefert der Film den Anstoß, ein scheinbar abgeschlossenes Kapitel nochmal fortzuschreiben.

Text: Patrick Torma. Bildmaterial: Ascot Elite.

Freitag, 26. September 1980: 13 Menschen sterben durch eine gewaltige Bombenexplosion auf dem Festgelände der Wies’n. 213 Menschen werden verletzt, viele von ihnen schwer. Noch vor Ablauf des Wochenendes wird bekannt: Die Ermittlungen konzentrieren sich auf den 21-jährigen Gundolf Köhler. Der Student, durch die Detonation aus dem Leben gerissen, soll das Attentat in Eigenregie geplant und durchgezogen haben. 1982 bestätigen die Ermittlungsbehörden diesen Verdacht in ihrem abschließenden Untersuchungsbericht. Köhler habe – trotz nachweisbarer Verbindungen in die rechtsradikale Szene – allein und aus rein persönlichen Motiven gehandelt.

Heute steht der politische Hintergrund dieser Tat außer Frage. Dass Köhler den Anschlag ohne jegliche Unterstützung verübt haben soll, bleibt zumindest zweifelhaft, lässt sich aber nicht mehr widerlegen. Womöglich hätte man in den ersten Monaten nach dem Attentat die Chance dazu gehabt. Schon damals wirft die Theorie vom Einzeltäter Fragen auf. Nur werden sie nicht gestellt. Weder in der breiten Öffentlichkeit, noch von den Medien.

Zurück auf Anfang: Ulrich Chaussy (rechts, Benno Fürmann) gibt sich mit den Ermittlungsergebnissen zum Oktoberfest-Attentat von 1980 nicht zufrieden. Zusammen mit dem Opferanwalt Werner Dietrich (Jörg Hartmann) sucht er Zeugen nochmal auf.
Zurück auf Anfang: Ulrich Chaussy (rechts, Benno Fürmann) gibt sich mit den Ermittlungsergebnissen zum Oktoberfest-Attentat von 1980 nicht zufrieden. Zusammen mit dem Opferanwalt Werner Dietrich (Jörg Hartmann) sucht er Zeugen nochmal auf.

Ulrich Chaussy stellt Fragen, die sonst nicht gestellt werden

Eine Ausnahme stellt der BR-Reporter Ulrich Chaussy dar. Der Radiojournalist ist lange Zeit einer von zwei maßgeblichen Kritikern, die nicht müde werden, auf Ungereimtheiten und Versäumnisse innerhalb der Ermittlungen hinweisen. Der andere heißt Werner Dietrich und tritt seit 1980 als Rechtsanwalt für die Belange der Opfer ein. Im Dezember 2014 passiert etwas, was beide kaum noch für möglich gehalten haben: Generalbundesanwalt Harald Range ordnet die Wiederaufnahme der Untersuchungen an. Ein Novum. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesanwaltschaft wird eine abgeschlossene Ermittlung wiedereröffnet. Als ein Aktenöffner erweist sich der Spielfilm Der blinde Fleck.

Der Film beruht auf den Recherchen Chaussys, der ebenfalls für das Drehbuch mitverantwortlich zeichnet. Dass ein Journalist über eine beratende Funktion hinaus seine eigenen Recherchen aktiv fiktionalisiert, kommt nicht allzu oft vor. Journalist*innen sind nun mal Faktenreiter, im besten Fall sind sie mit einem Gespür für Storytelling gesegnet, sie sind aber nur selten gute Dramaturgen. Die Erfahrung hatte bereits Robert Redford machen müssen, als er sich anschickte, den wichtigsten Journalistenfilm aller Zeiten zu produzieren: Die Unbestechlichen.

Reporter Chaussy und Filmemacher Harrich betreiben Schreib-Sparring

Redford hatte den Watergate-Enthüller Carl Bernstein beauftragt, ein Skript auf Grundlage seines eigenen Buches All The President’s Men zu entwickeln, obwohl ihm bereits eine Fassung des Oscar-prämierten Autoren William Goldman (Butch Cassidy and the Sundance Kid) vorlag. Der Schuss ging nach hinten los: Goldman war verärgert, das Bernstein-Skript nicht zu gebrauchen. Letztlich schaffte es nur eine Szene aus der Feder des Journalisten in den fertigen Film – und die wirkt reichlich deplatziert. Doch das ist eine andere Geschichte. Wer wissen möchte, um welche Szene es sich handelt, kann das in der Besprechung von Die Unbestechlichen nachlesen.

Während Bernstein in Die Unbestechlichen „nur“ die Rolle des porträtierten geistigen Vaters blieb, ist Der blinde Fleck zu großen Teilen Ulrich Chaussys Film. Auch wenn der Reporter auf das Sparring mit Daniel Harrich verweist. Er habe mit seinen Recherchen lediglich die Resultate der Geschichte geliefert. Die Ausarbeitung des Plots und die Entwicklung der Journalistenfigur (gespielt von Benno Fürmann, journalistisch auch in Die vierte Gewalt unterwegs) hingegen seien in den Aufgabenbereich des Filmemachers gefallen, erklärt Ulrich Chaussy im Making-of. Der blinde Fleck sei ein „fiktiver Spielfilm, keine Dokumentation“. Opfer, Zeugen, Informanten seien – sofern es sich nicht um Personen der Zeitgeschichte handele – verfremdet worden, fügt eine Texttafel vor dem Abspann hinzu.

Behutsamer Interviewer: Zeugen und Opfer werden in Der blinde Fleck weitestgehend fiktionalisiert.
Behutsamer Interviewer: Zeugen und Opfer werden in Der blinde Fleck weitestgehend fiktionalisiert.

Achtbares Aufklärungs- und Erinnerungskino

Auf der Ebene der Enthüllungen hält sich der Film allerdings ziemlich genau an die Fakten, sodass man guten Gewissens von einem dokumentarischen Einschlag sprechen kann. Die durchwachsenen Rezensionen werfen dem Film genau das vor: Der blinde Fleck vernachlässige die Spannung zugunsten einer peniblen Chronologie der Recherchen. Harrich protokolliere „das gesammelte Material brav durch“, notiert der Spiegel etwas abschätzig im Januar 2014. Als sei der junge, zum Zeitpunkt der Produktion gerade mal 30-jährige Filmemacher den gravitätischen Ausführungen des lebenserfahrenen Journalisten nur allzu pennälerhaft erlegen.

Die Kritik enthält einen wahren Kern: Die Anleihen ans Paranoia-Kino der 1970er-Jahre wirken angeflanscht. Kaum wabert die Bedrohung durchs Bild – sei es in Form unbekannter Verfolger oder einer Zerreißprobe für das junge Familienglück – ist sie gleich schon wieder verdunstet. Das nächste Puzzle-Stück auf dem Weg zu einem Gesamtbild, das die offiziellen Verlautbarungen konterkariert, wartet bereits. Wer allein mit den Maßstäben aufregender Thriller-Unterhaltung an den Film herangeht, der wird ihm nicht viel abgewinnen können.

Der blinde Fleck erfüllt fast schon journalistische Funktionen

Nun betrachten wir Filme auf diesem Blog gerne durch die Realismus-Brille, um mögliche Auslassungen oder allzu große dramaturgischen Freiheiten bei der filmischen Darstellung journalistischer Scoops aufzudecken. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist Der blinde Fleck achtbares Aufklärungs- und Erinnerungskino. Der Film verdichtet sorgfältig, knüpft nachvollziehbare Beweisketten und stellt die richtigen Fragen. Fragen, die über dreißig Jahre nach dem Attentat endlich nach einer Antwort verlangen. Er erfüllt fast schon journalistische Funktionen.

Der blinde Fleck steigt ein mit der Verhaftung des Protagonisten, die sich im Jahre 1977 zuträgt. Diese Episode ist für den weiteren Handlungsverlauf irrelevant, nicht zuletzt, weil sich die Ermittlungen gegen Ulrich Chaussy rasch in Luft auflösen. Ein Hinweis bringt den Journalisten mit der linksextremen Szene in Verbindung, die Behörden vermuten in seiner Wohnung eine Bastelstube für Bombenleger. Wie sich herausstellt, sind die Ermittler einer Falschinformation aufgesessen.

Die Ermittlungen im Jahre 1982 kommen zu dem Ergebnis, dass der 21-jährige Gundolf Köhler allein und ohne politisches Motiv gehandelt habe. Ein Urteil, das 2020 zumindest in Teilen revidiert wird.
Die Ermittlungen im Jahre 1982 kommen zu dem Ergebnis, dass der 21-jährige Gundolf Köhler allein und ohne politisches Motiv gehandelt habe. Ein Urteil, das 2020 zumindest in Teilen revidiert wird.

Die Bundesrepublik schaut nach links, aber nicht nach rechts

Dennoch ist die Szene wichtig für die Tonalität – und letztlich für den zentralen Vorwurf, den der Film transportiert. Sie rekurriert auf das damalige Stimmungsbild in der BRD: Während sich die Republik unter dem Eindruck des Heißen Herbstes vor dem linksradikalen Terror fürchtet und ein fälschlich verdächtigter Ulrich Chaussy mithilfe eines Sondereinsatzkommandos aus seinem Zuhause gezerrt wird, ist sie blind für Radikalisierungstendenzen auf der anderen Seite des politischen Spektrums. War der Rechtsextremismus in der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre hinein vor allem eine Domäne der Altnazis, sprießen nun verstärkt neonazistische Gruppen aus dem antidemokratischen Boden.

Einige dieser Vereinigungen gelten als gewaltbereit, sind paramilitärisch organisiert und verfolgen terroristische Absichten. Alle diese Merkmale treffen auf die 1973 gegründete Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann zu. Ihre Mitglieder lehnen die Bundesrepublik ab, sie machen keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für Adolf Hitler und streben einen Führerstaat nach nationalsozialistischem Vorbild an. Als verfassungsfeindliche terroristische Vereinigung deklariert, lässt der damalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) die WGS Hoffmann Anfang 1980 verbieten und auflösen. Baums Pendant auf bayrischer Landesebene, Georg Tandler, und Bayerns Ministerpräsident Franz-Josef Strauß bezeichnen das Verbot in den Wochen danach mehrfach als unverhältnismäßig. Mehr noch: Sie tun die militärischen Aktivitäten der WSG Hoffmann als „Pfadfinderspiele“ einzelner „Spinner“ ab.

Das Oktoberfestattentat und die Bundestagswahl 1980

Diese Aussagen holen die Politiker wenige Monate später wieder ein. Das Attentat von München ereignet sich neun Tage vor der Bundestageswahl 1980, bei der Strauß für die Union CDU/CSU als Kanzlerkandidat antritt. Dem Geologiestudenten Gundolf Köhler, der schon bald als Einzeltäter feststeht, werden Kontakte zu eben jener WSG Hoffmann nachgesagt. Wie sich herausstellt, nimmt Köhler bereits 1975 Kontakt zur Gruppe auf. Zwischenzeitlich erhält er vom Gründer Karl-Heinz Hoffmann das Mandat, eine Zweigstelle in seinem Heimatort Donaueschingen aufzubauen.

Es gibt eine ganze Reihe von Verbindungen, die belegen, wie tief Gundolf Köhler in der militanten Neonazi-Szene verwurzelt ist. Dabei handelt es sich keineswegs um Indizien, die über erst Jahre hinweg mühsam zusammengetragen werden. Im Gegenteil: Von diesen Indizien haben die Ermittler bereits Anfang der 1980er-Jahre Kenntnis, wie der Spiegel 2011 unter Berufung auf 46.000 Seiten Aktenmaterial berichtet. Auch liegen Aussagen von Zeugen vor, die Köhler kurz vor der Explosion mit verdächtigen Personen gesehen haben wollen. Auf elementare Fragen gibt es keine Antworten. Von wem stammt die abgerissene Hand, die keinem der Toten, Gundolf Köhler eingeschlossen, zugeordnet werden kann? Und vor allem: Wie ist der 21-Jährige an den Sprengstoff gelangt, den er für den Bau der Bombe verwendet haben soll?

Ziemlich Deep Thoat-mäßig: Insider Meier (August Zirner) füttert den Journalisten Ulrich Chaussy mit Informationen an. Doch welche Agenda verfolgt er?
Ziemlich Deep Thoat-mäßig: Insider Meier (August Zirner) füttert den Journalisten Ulrich Chaussy mit Informationen an. Doch welche Agenda verfolgt er?

Verdrängung? Vertuschung? Sind die Ermittlungen motivgesteuert?

Für Ulrich Chaussy ist die ungeklärte Herkunft des Explosivmaterials die zentrale Sollbruchstelle im Untersuchungsbericht: „Zur Schließung der Beweiskette von Köhlers Einzeltäterschaft müsste jedoch erwiesen sein, auf welche Weise sich Köhler den verwendeten Sprengstoff ohne Mitwirkung anderer beschafft und ihn in seiner Werkstatt verarbeitet hat. Selbst der von den Ermittlern angeführte Hauptzeuge berichtete nur von einer leeren Bombenhülle in Köhlers Werkstatt. Jedoch sind bei der dortigen Durchsuchung weder Gerätschaften zum kontrollierten Erhitzen und Vergießen von Sprengstoff noch Mikrospuren von TNT oder sonstigem militärischem Sprengstoff entdeckt worden.“

Konnten oder wollten das Bayrische Landeskriminalamt und die Bundesgeneralanwaltschaft diese Verbindungen nicht sehen? Fürchteten sich die leitenden Ermittler und Geheimdienstler davor, sich eingestehen zu müssen, dass sie die rechte Gefahr verkannt hatten? Deckten sie das Versagen einer Bonner Republik, die ihren demokratischen Auftrag, die Entnazifizierung, nur allzu halbherzig erfüllt hatte? Oder steckten – mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl – gar gezielte realpolitische Motive hinter einer möglichen Vertuschung? Chaussy und Der blinde Fleck legen diese Lesart nahe.

Georg Langemann und der positive Staatsschutz

Mit Georg Langemann (gespielt von Heiner Lauterbach), seines Zeichens Chef des bayrischen Staatschutzes, etabliert der Film einen sichtbaren Gegenspieler. Wobei: In seiner Einführungsszene wird seine Rolle als Wahrheitsverhinderer noch verschleiert. Wir begegnen Langemann, wie er angehende Polizisten unterrichtet, es geht um die Natur politischer Attentate und um die historisch belegte Unzuverlässigkeit der Einzeltätertheorie. Der echte Langemann hatte zu diesem Thema tatsächlich publiziert. Direkt im Anschluss lernen wir in kleinerer Runde ein weiteres Theorem Langemanns kennen – der studierte Rechtswissenschaftler erklärt hinter verschlossenen Türen seine Idee vom „positiven Staatsschutz“. Es sei nicht mehr zeitgemäß, sämtliche „Geheimdienstinformationen für sich zu behalten“. Vielmehr könne es sich in gewissen Situationen auszahlen, „gezielte Informationen an ausgewählte Medien“ heranzutragen.

Langemanns Vortrag über den positiven Staatsschutz ist ein doppelter Vorgriff auf das, was noch kommt. Einerseits sitzt mit dem Sekretär Meier (August Zirner) ein Mann am Tisch, der sich später zum Whistleblower aufschwingt und Benno Fürmann alias Ulrich Chaussy in bester Deep Throat-Manier mit Informationen versorgt. Andererseits geht Staatsschützer Langemann selbst mit „gutem“ Vorbild voran. Er persönlich wird Gundolf Köhlers Namen an die Presse weitergeben.

Werner Winter (rechts, Udo Wachtveitl) genießt die Privilegien von Georg Langemanns (links, Heiner Lauterbach) "positivem Staatsschutz". Die Medien, so die Botschaft, sind Teil des Problems.
Werner Winter (rechts, Udo Wachtveitl) genießt die Privilegien von Georg Langemanns (links, Heiner Lauterbach) “positivem Staatsschutz”. Die Medien, so die Botschaft, sind Teil des Problems.

Ziemlich fragwürdige Freunde: Die Rolle der Medien

So kommt es, dass sich Journalisten in Köhlers Umfeld umhören, noch bevor sich die Ermittler nach Donaueschingen aufmachen. In der Realität sind Mitarbeiter der BILD am Sonntag sowie der 1992 eingestellten Illustrierten Quick als Erste eingeweiht. Im Film ist es der nicht näher verortete Reporter Werner Winter (Udo Wachtveitl), der Langemanns Privilegien (und den einen oder anderen Branntwein auf dessen Terrasse) genießt. Die Botschaft ist klar: Die Medien sind Teil dieses Problems.

Heute geht man davon aus, dass mutmaßliche Mittäter durch den Langemann-Leak gewarnt wurden. Sollte das Attentat wirklich einen terroristischen Hintergrund gehabt haben, wäre es nicht vorstellbar, dass es – so makaber es klingt – verheerender hätte ausfallen sollen? Augenzeugen berichten, Gundolf Köhler habe sich wenige Minuten vor der Explosion aufgeregt mit zwei Männern in Bundeswehrparkas unterhalten. Ein Streit über die Ausführung? Hätte die Bombe vielleicht an anderer, zentralerer Stelle detonieren sollen, nicht schon am Eingang zur Theresienwiese? Das sind Spekulationen, die über den Film hinaus gehen. Der blinde Fleck bleibt bei den Fakten. Und zu denen gehören Hinweise auf mögliche, namentliche bekannte Mitwisser, die sich den Ermittlungen durch Suizid oder Flucht ins Ausland entzogen haben.

Die Zweifel eines journalistischen, einsamen Wolfes

Die Vielzahl der liegengelassenen Stöckchen in diesem Fall macht betroffen, ja sogar fassungslos. Ulrich Chaussy wird zu unserem Fels in der Brandung. Benno Fürmann spielt Chaussy ruhig, kontrolliert. Der Journalist beobachtet viel, kombiniert, ordnet ein – sein durchdringender Blick signalisiert ein ständiges Rattern. Manchmal, in Momenten des Wankens, schimmert in seinen Augen Unsicherheit durch.

„Du bist dabei, eine richtig große Sache aufzudecken“, freut sich Lise Chaussy (Nicolette Krebitz) darüber, dass ihr Gatte endlich mal mit „interessanten Themen“ zu tun hat. „Ja“, stimmt der Reporter Chaussy zu, jedoch mit der entlarvenden Einschränkung: „Es ist beängstigend.“ Wie kann es sein, dass er der einzige Journalist zu sein scheint, der sich für die losen Enden in diesem Fall interessiert? Ist er dabei, sich zu verrennen? Das sind Gedanken, die den echten Ulrich Chaussy ein ums andere Mal umtreiben.

Einsamer Wolf: Ulrich Chaussy steht lange allein auf weiter Recherche-Flur. Zwar ist die Geschichte auch "BR-intern eine große Nummer" - viel bekommen wir davon aber nicht mit.
Einsamer Wolf: Ulrich Chaussy steht lange allein auf weiter Recherche-Flur. Zwar ist die Geschichte auch “BR-intern eine große Nummer” – viel bekommen wir davon aber nicht mit.

Entlarvend? Die Abwesenheit der Kolleg*innen

Diese Zweifel sind nachvollziehbar, im Anbetracht der Wände, gegen die Ulrich Chaussy anläuft. Im Film bleiben sie, in Anlehnung an das Paranoia-Kino, weitestgehend unsichtbar. Gleiches gilt auch für die Medien an sich. Abgesehen vom nutznießenden Werner Winter spielen andere Journalist*innen ausnahmslos passive Rollen. „Vielleicht haben sie zu früh aufgehört. Vielleicht waren sie nicht gut genug. OdervVielleicht hatten sie Angst“, mutmaßt Ulrich Chaussy in einem Gespräch und verabreicht damit Kollegenschelte in homöopathischer Dosis.

Wobei: Seine Isolation ist Schelte genug. Vergleicht man Der blinde Fleck mit den großen US-Journalistenfilmen aus dem abgelaufenen Jahrzehnt, dann ist die Abwesenheit von Kolleg*innen auffällig. Spotlight, Der Moment der Wahrheit, Die Verlegerin – alle diese Beiträge charakterisieren den investigativen Journalismus als Teamleistung, und auch im echten Leben sind die großen Enthüllungen unserer Zeit in aller Regel auf Recherchen im Kollektiv zurückzuführen. Selbst Bob Woodward (Redford) und Carl Bernstein (Dustin Hoffman) aus der Two-Man-Show Die Unbestechlichen konnten sich im Zweifel an ihren knurrigen, aber honorigen Chefredakteur Ben Bradlee (Jason Robards) wenden.

Wankelmütige Verbündete: Der BR und Opferanwalt Werner Dietrich

In Der blinde Fleck sind die Recherchen Chaussys „BR-intern eine große Nummer“, die Türen zum Sender bleiben uns allerdings über lange Zeit verschlossen. Sie öffnen sich erst zum Ende hin, nachdem der Film den Sprung in die Fast-Gegenwart geschafft und der Wind sich gedreht hat: Im Fernsehen läuft ein Bericht über die Pannen entlang der NSU-Ermittlungen. Chaussys Kolleg*innen, aber auch die Bundesrepublik, schauen endlich nach rechts. Es brauchte 30 Jahre, um die Öffentlichkeit für diese Problematik zu sensibilisieren.

Einer, der diese zeitliche Dimension richtig vorhersagt, ist der Opferanwalt Werner Dietrich (Jörg Hartmann). Dessen Verdienste werden in der ersten Hälfte des Films angemessen gewürdigt, doch ausgerechnet am Scheideweg wird die Figur recht unrühmlich aus der Handlung entlassen. „Das braucht Zeit. 30, 40 Jahre“, klagt Dietrich am Kneipentresen. Mal wieder haben erhebliche Widerstände das Duo ausgebremst, der Jurist wähnt sich mit seinem Latein am Ende. Ulrich Chaussy allerdings sieht gar nicht ein, der Bonner Republik so viel Karenzzeit zu gewähren. Er lässt Dietrich, seinen einzigen Verbündeten, allein in der Gaststätte zurück. Soll er doch versacken, die Wahrheit darf es nicht. Chaussy mag vielleicht zweifeln. Der blinde Fleck lässt allerdings keine Zweifel an der Integrität seiner Journalistenfigur aufkommen.

Die Recherchen zum Oktoberfest-Attentat werden für Ulrich Chaussy zur Lebensaufgabe. Darunter leidet die Beziehung zu seiner Frau Lise (Nicolette Krebitz).
Die Recherchen zum Oktoberfest-Attentat werden für Ulrich Chaussy zur Lebensaufgabe. Darunter leidet die Beziehung zu seiner Frau Lise (Nicolette Krebitz).

Journalistenfigur Ulrich Chaussy: Idealist (fast) ohne Schwächen

Der Reporter putzt nimmermüde Klinken, ist ein gewissenhafter Rechercheur und einfühlsamer Interviewer. Seine Umwelt raucht Kette, er selbst rührt nicht einen Glimmstängel an. Eine einzige Schwäche gestattet ihm der Film, und die lässt sich im Nachgang – ganz im Sinne eines investigativjournalistischen Plädoyers – als Stärke auslegen: Seine Besessenheit für den Fall, die die Beziehung zu Lise gefährdet. Dieser Konflikt ist aber abgehakt, bevor er eine echte emotionale Wirkung entfalten kann. Erstens währt der Bruch nur wenige Minuten, zweitens ist es ausgerechnet die Gattin, die ihren Ulrich – einen Zeitsprung später – zurück in die Recherchen entlässt.

Zum Ende hin wird Der blinde Fleck flüchtig. Eine Episode handelt von der zwischenzeitlichen Hoffnung, die angesichts forensischer Fortschritte aufkeimt. Die DNA-Analyse revolutioniert die Kriminalistik. Doch mit Entsetzen muss Ulrich Chaussy feststellen, dass diese Chance längst versiebt wurde. Wichtige Beweisstücke, darunter die Hand, die serologisch keinem Opfer zuzuordnen war, wurden 15 Jahre nach dem Abschluss der Ermittlungen bei einem Frühjahrsputz in der Asservatenkammer des Bundes entsorgt. Immerhin galt der Fall ja als abgeschlossen.

Wie bei Aktenzeichen XY: Die Resonanz auf Der blinde Fleck

So endet Der blinde Fleck offen, mit der bitteren Erkenntnis, dass sich Geschichte wiederholt, und dem leisen Optimismus, die Republik möge aus dem Déjà-Vu der NSU-Morde endlich die richtigen Lehren ziehen. Die Uraufführung im Bayrischen Landtag im Juni 2013 birgt eine erste Überraschung: Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sagt Ulrich Chaussy zu, er werde die angeblich vernichteten Spurenakten des Landeskriminalamts freigeben lassen. Anfang 2014 darf Werner Dietrich diese Dokumente erstmals einsehen.

Über das Kino und die Ausstrahlung im Fernsehen findet das Oktoberfestattentat schließlich seinen Weg zurück in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Wie nach einer abendfüllenden Sonderausgabe von Aktenzeichen XY melden sich zahlreiche Zeugen bei Ulrich Chaussy und Werner Dietrich. Darunter eine Frau, die nur einen Tag nach dem Anschlag im Schrank eines Bekannten Flugblätter gefunden haben will, die zu Ehren von Gundolf Köhler verfasst wurden. Zu diesem Zeitpunkt war der Name Köhlers noch nicht bekannt.

Der Rechtsanwalt Werner Dietrich (Jörg Hartmann)  setzt sich seit 1980 für die Belange der Opfer ein. Wie Chaussy ist er bis heute am Ball geblieben. 2014 stellt er den vierten Antrag auf Wiederaufnahme der Ermittlungen. Er hat das Momentum auf seiner Seite.
Der Rechtsanwalt Werner Dietrich (Jörg Hartmann) setzt sich seit 1980 für die Belange der Opfer ein. Wie Chaussy ist er bis heute am Ball geblieben. 2014 stellt er den vierten Antrag auf Wiederaufnahme der Ermittlungen. Er hat das Momentum auf seiner Seite.

Der blinde Fleck, NSU-Morde: Die Zeit ist reif für eine Aufarbeitung

Die Erscheinung Der blinde Fleck fällt in eine Zeit, in der das öffentliche Vertrauen in die Behörden durch die Versäumnisse in den NSU-Ermittlungen belastet ist. Im September 2014 stellt Werner Dietrich seinen vierten Antrag auf Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahren. Er hat das Momentum auf seiner Seite. Im Dezember 2014 gibt Bundesgeneralanwalt Harald Range dem Antrag statt. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte nimmt die Bundesanwaltschaft ein abgeschlossenes Verfahren wieder auf. „Im Grunde genommen hätte man die Bundesanwaltschaft schon früher dazu bringen müssen, aber dazu hätte es eine größere Resonanz in der Öffentlichkeit gebraucht, die es aber bis zu dem Film Der blinde Fleck nie gegeben hat“, erinnert sich Ulrich Chaussy rückblickend.

Daniel Harrich und Ulrich Chaussy veröffentlichen 2015 den Dokumentarfilm Attentäter. Einzeltäter? Neues vom Oktoberfestattentat (Link zur BR-Mediathek), der sich mit den Entwicklungen beschäftigt, die Der blinde Fleck ins Rollen brachte. Unter anderem kommt eine Krankenschwester zu Wort, die als blutjunge Berufsanfängerin einen Mann behandelte, der sich selbst ins Krankenhaus eingelieferte hatte. Ihm fehlte eine Hand.

Diesem und anderen, knapp 700 Hinweisen gehen die Ermittler in den folgenden Jahren nach, über 1.000 Menschen werden befragt. Ein Aktenwust von 420.000 Seiten Umfang aus den Geheimdienstbeständen der ehemaligen DDR kommt erstmals auf den Tisch.

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Über verpasste Chancen und die Hoffnung für die Zukunft

Allein, das Happy End bleibt aus. 2020 ist auch das Jahr, in dem die Ermittlungen erneut eingestellt werden. Am 7. Juli erklärt der Generalbundesanwalt Peter Frank, dass die Annahme, Gundolf Köhler habe rein aus persönlichen Motiven gehandelt, falsch gewesen sei. Der Anschlag von München, er habe einen rechtsextremistischen Hintergrund gehabt, mit dem Ziel, die Bundestagswahl 1980 zu beeinflussen. Erkenntnisse, die auf eine organisierte Drahtzieherschaft im Hintergrund schließen lassen, liefern die Ermittler allerdings nicht. Gundolf Köhler bleibt offiziell ein Einzeltäter.

Heute wissen wir zwar mehr, die Versäumnisse der frühen Ermittlungen allerdings haben sich nicht mehr einholen lassen. Waren die Recherchen Chaussys, die juristischen Anstrengungen Dietrichs am Ende umsonst? Dass die Bundesanwaltschaft die Tat als „rechtsextremistisch motiviert“ eingeordnet hat, ist in ihren Augen zumindest ein kleiner Teilerfolg. Diese Anerkennung könne nun „eine Blockade aufbrechen“, die einer Entschädigung der Opfer im Wege stand, erklärte Ulrich Chaussy jüngst seine Hoffnungen für die Zukunft. Denn noch heute leiden Menschen unter den Folgen eines Attentates, das nun vierzig Jahre in der Vergangenheit liegt. Das wäre jedenfalls ein würdiger Schlusspunkt hinter der Geschichte eines Reporters, der die Aufklärung des Oktoberfestattentates zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Und hinter einem Film, der viel(e) bewegt hat.

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