Auch ein blinder Journalist wittert einen Scoop. Fragt sich nur: Wer ist hier der Blinde?
Auch ein blinder Journalist wittert einen Scoop. Fragt sich nur: Wer ist hier der Blinde?
Dario Argento lässt in seinem Giallo Die neunschwänzige Katze (OT: Il gatto a nove code) ein ungleiches Reporter-Duo ermitteln.
Text: Patrick Torma. Bildmaterial: AVU.
Ein heller Moment in der doppelten Dunkelheit: Der blinde Ex-Journalist Franco Arno schnappt während eines Spaziergangs durchs nächtliche Rom Fetzen eines erpresserischen Gesprächs auf. Seiner achtjährigen Nichte Lori gelingt es, sich das Gesicht eines Verschwörers einzuprägen. In der selben Nacht kommt es zu einem Einbruch in einer nahe gelegenen medizinischen Einrichtung. Weil scheinbar nichts entwendet wurde, steht die Polizei vor einem Rätsel. Der Zeitungsreporter Carlo Giordani nimmt sich der Geschichte an, ist aber zunächst ebenso ratlos.
Was sich abzeichnet: Den Forschern in dem Institut scheint ein wissenschaftlicher Durchbruch gelungen. Sie haben ein Chromosom entdeckt, auf dem die genetische Disposition für kriminelle Neigungen verankert ist. Doch irgendjemand hat offensichtlich etwas gegen die Veröffentlichung dieser Sensation. Nach und nach werden beteiligte Wissenschaftler und Gönner des Projektes um die Ecke gebracht. Ohrenzeuge Arno schwant, seine nächtliche Begegnung könnte ein Puzzle-Stück in dieser Verschwörung sein. Er und Lori verbünden sich mit dem noch ahnungslosen Giordani – schon bald sieht das Trio den Foresta Umbra vor lauter Bäumen nicht. Obendrein geraten sie selbst ins Fadenkreuz des Killers.
Dario Argento lässt die Katze (kaum) aus dem Sack
Die neunschwänzige Katze (OT: Il gatto a nove code) ist der zweite Teil von Dario Argentos loser „Tier-Trilogie“. Lose deshalb, weil die Filme einerseits inhaltlich wenig miteinander zu tun haben, die titelgebende Katze andererseits nur eine metaphorische Rolle spielt. Abgesehen davon, dass der Titel doppeldeutig ist: Der feststehende Begriff „neunschwänzige Katze“ bezeichnet eigentlich ein Folter- und Bestrafungsinstrument. Das Marketing hielt es jedoch für eine gute Idee, eine schwarze Katze aufs Kinoplakat zu zimmern, um eine Nähe zu Argentos Erstling Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe (internationaler Titel: The Bird with the Crystal Plumage) zu konstruieren. Der deutsche Verleih setzte einen dreisteren Marketing-Kniff obendrauf, indem er Die neunschwänzige Katze als Teil der in Deutschland extrem beliebten Edgar-Wallace-Filmreihe etikettierte. Der Film selbst nimmt schließlich nur kurz Bezug zum tierischen Titel. In einer Szene setzt Arno zum Indizien-Kassensturz an. Er zählt neun Hinweise: „Wie bei den neun Schwänzen einer Katze“.
Eine Erklärung von hinten durch die Brust – eine Herangehensweise, die sich durch den gesamten Film zieht. Die neunschwänzige Katze ist ein verworrener Giallo, der viele, viele Haken schlägt, um eine profane Auflösung zu präsentieren. Hier und da blitzt Argentos alptraumhafte Inszenierung auf, dazu gehört die subjektive Kamera – ein Markenzeichen des Regisseurs –, die uns regelrecht in den Film zieht und uns durch die Augen des Killers blicken lässt. Auch der Score von Ennio Morricone trägt zur Atmosphäre bei. Doch letztlich ist Die neunschwänzige Katze ein – für Argento-Verhältnisse – konventioneller Steifen.
Sehen oder Nicht-Sehen – das ist hier die Frage
Konventionell sind auch die Tropen, die in den Journalistenfiguren zum Vorschein kommen. Wobei die Prämisse des Films und das in den Figuren verhandelte Thema durchaus betrachtenswert sind. Franco Arno, gespielt von Karl Malden (Die Faust im Nacken, Patton), ist ein alternder Journalist ohne Augenlicht. Er verkörpert einen Blinden, der sehender ist als alle Sehenden. Sehen, vor allem die Unzuverlässigkeit dieser Sinneswahrnehmung, ist ein wiederkehrendes Motiv in den Filmen Argentos. Vieles ist nicht so wie es scheint, „die Augen spielen einen Streich“ lautet ein geflügeltes Wort. Arno ist anderen in seiner Kombinationsgabe einen Schritt voraus, weil er aufgrund seiner Erblindung vor trügerischen Eindrücken gefeit ist.
Dass Bilder immer nur einen Ausschnitt der Wahrheit abdecken, thematisiert der Film anhand eines praktischen Beispiels. In einer Szene betrachtet Giordani ein Zeitungsfoto, das im Moment eines vermeintlichen Unfalls geschossen wurde: Ein Mann – natürlich mit Verbindung zum Fall – gerät vor einen Zug. Als erfahrener Zeitungsmann weiß Giordiani, dass Bilder selten 1-zu-1, so wie sie sind, ihren Weg in die gedruckte Ausgabe finden. Tatsächlich wurde die Aufnahme, wie er vom zuständigen Fotografen erfährt, vergrößert abgedruckt. Das Negativ enthält ein entscheidendes, kaum wahrnehmbares Detail, das durch die Reproduktion aus dem Bildausschnitt „gerutscht“ ist: Eine Hand, die den Unglückseligen vor den einfahrenden Zug stößt.
Sehend, aber doch blind: Der Reporter Carlo Giordani
Abgesehen von diesem Geistesblitz tappst Carlo Giordani (James Franciscus, Rückkehr zum Planet der Affen) reichlich unbeholfen durch die Recherchen. Der Zeitungsreporter ist stets darauf angewiesen, dass ihn der blinde Arno zurück auf den richtigen Weg führt. Dass Giordani sehend ist, gereicht ihm nicht zum Vorteil. Seine Sinneseindrücke verleiten ihn zu Fehlurteilen (Stichwort: „Nichts ist so wie es scheint“). Sie bewahren ihn nicht mal vor der Gefahr – dass die Milch in seinem Appartement vergiftet wurde, vermag er nicht zu sehen, sondern nur zu „erriechen“. Schließlich erliegt der Journalist den optischen Reizen einer Frau, die im Zentrum der Ermittlungen steht. Er ist de facto blind vor Liebe.
Auch sonst ist Giodarni von der Hilfe anderer Personen abhängig. Eines muss man ihm zumindest lassen – er unterhält weitreichende Beziehungen. So zeichnet er sich durch seine Nähe zum redseligen Polizeichef Spimi aus, der ihn unentwegt mit Informationen anfüttert. Sei es, weil er selbst keine Anknüpfungspunkte findet oder er mit der Hartnäckigkeit seines Gesprächspartners nicht umzugehen weiß. „Am besten ist, ich erzähle Dir alles, dann habe ich es hinter mir“, raunt Spimi Giordarni zu, als sich die beiden zum ersten Mal am Tatort begegnen. So oder so: Die Polizei in Die neunschwänzige Katze ist nicht in der Lage, den Fall aufzuklären. Stattdessen darf die Journalie ran – ein typischer Dreh in Filmen.
Grenzüberschreitungen in Die neunschwänzige Katze
Wir gebrauchen den abschätzigen Terminus „Journalie“ an der dieser Stelle ganz bewusst – denn häufig haftet dem Journalisten in der Ermittlungsrolle etwas Halbseidenes an. Schließlich geht er den berüchtigten Extra-Schritt, den Ordnungshüter nicht gehen (dürfen). Giordani überschreitet in Die neunschwänzige Katze mehr als einmal die Grenzen des Gesetzes, beispielsweise schreckt er weder vor Einbrüchen und noch vor Grabschändung zurück. Er zögert nicht, seine Kontakte ins kleinkriminelle Milieu spielen zu lassen und einen Safeknacker anzuwerben. „Mit solchen Manieren kann höchstens bei der Zeitung landen“, heißt es über ihn. Mit Blick aufs Berufsethos verdient sich Giordani ganz sicher keinen Applaus. Aber der Zweck heiligt – wie so oft – die Mittel.
Eigentlich meint es der Reporter nur gut. Trotz seiner Fehler- und Lasteranfälligkeit (wie es sich für einen Filmjournalisten gehört, hegt Giordani eine Vorliebe für Rauchwerk und Rachenputzer), ist und bleibt Giordani der Held in dieser Geschichte. Seine halbseidenen Methoden erscheinen im Licht dieses 70er-Jahre-Giallos als verwegene Winkelzüge, derer er sich bedienen MUSS. Seine anfängliche Sensationsgier weicht einem echten, aufrichtigen Wahrheitsstreben. „Eigentlich wollte ich die Geschichte nur ausschlachten. Jetzt ist es mein Fall. Jetzt will ich es wissen“, zeigt sich Giordani mit fortlaufender Spielzeit gemäßigt geläutert. Kein Wort über den gemeinschaftlichen Wert der Presse, kein Pathos. Sein Idealismus köchelt auf Sparflamme. Immerhin. Wer mehr erwartet, ist im falschen Film.
Giordani: Schwinger, Statistik-Ass, Gestriger
Letztendlich ist Giordani Teil des Heldenkinos der 1970er-Jahre. Ein Schönling und Frauenheld mit ordentlichem Schwinger, wenn es darauf ankommt. Eine coole Socke, die sich keinen Vorschriften unterwirft. Ein Typus, der unter Berücksichtigung heutiger Sehgewohnheiten reichlich rückständig erscheint. Nicht ganz so schmierig wie etwa der spannerhafte Sugar Daddy Claude Marchand in dem käsigen Horror-Heuler und Karloff-Spätwerk Kochendes Blut. Allerdings: Mit „charmant“ lässt sich Carlo Giordani mit bestem Gewissen nicht mehr umschreiben. Zugegeben, der folgende prä-koitale Dialog ist so debil, dass es für einen Lacher reicht: „Weißt Du wie viele Paare in dieser Minute miteinander ins Bett gehen? 780!“ – „Ist das so?“ – „Mhm. Statistisch erwiesen. Ich finde, wir sollten diese Quote unbedingt verbessern.“ Für den Gebrauch des N-Wortes allerdings gehört Giordani abgestraft. Da kann man noch so blind sein.
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